• kapitel 8 •

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"Dir wird heute diese Aufgabe zuteil", murmelte Emma vor sich hin und hing eines der schneeweißen Laken auf die Schnur, die an der Häuserwand entlang gespannt war.
"Du musst nur heute die Wäsche aufhängen."
Immer und immer wieder wiederholte sie Isabellas Worte, etwas genervt darüber. Es war bereits eine ganze Woche vergangen, und noch immer musste sie die Wäsche waschen und aufhängen, ihr blieb keine einzige freie Minute, um mit den Kindern zu spielen.
Die kleinsten hatten dies auch bemerkt, sie fingen an, sich darüber zu beschweren.

Mit einem Ruck zog sie das Laken auf der Schnur zurecht. Erleichtert klopfte sie ihre Hände ab, es war das letzte Laken für heute. Nun musste sie noch die weißen Hemden aufhängen.
"Emma?"
Isabella näherte sich ihr und lächelte sie an.
"Den Rest der Wäsche darf jemand anderes machen, du hast deinen Dienst erledigt."
Sie fühlte sich auf einmal befreit, erleichtert von dieser kleinen Last.
"Carol, Paul!", rief Isabella über die ganze Wiese. In der Ferne erschienen die beiden, ganz gemütlich trotteten die beiden zu ihnen.
"Ihr beide seid jetzt für die Wäsche zuständig", meinte Isabella und führte die beiden ins Haus.
"Ja, Emma darf wieder spielen!", jubelten die Kinder und umringten sie fröhlich.
Ihr gefror das Blut in den Adern. Sie lebte diese Situation nun schon zum zweiten Mal durch, sie hörte diese Worte zum zweiten Mal.
Riko stand vor ihr, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da schallte Isabellas Stimme erneut über das ganze Gelände. Auch der Junge mit den silbernen, stacheligen Haaren bekam eine Aufgabe zugeteilt-
Eine andere, als sie Carol und Paul bekommen haben.

•••

"Guck Mal Emma!", rief eines der Kinder und hob seine Zeichnung hoch. Das Bild zeigte einen kleinen Jungen, der gemeinsam mit seinen Eltern Tiere besichtigte.
"Du willst später einmal in den Zoo gehen?", fragte Emma lächelnd, der kleine Junge nickte energisch. Wieder spürte sie einen eiskalten Blick in ihrem Nacken, es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter.
Isabella stand hinter ihr und beobachtete sie lächelnd, eigentlich könnte es nicht normaler sein. Emma jedoch wusste, was hier vor sich ging. Zwar musste sich Isabella die Niederlage gegen ihren eigenen Sohn eingestehen, doch gegen Emma hatte sie noch lange nicht verloren. Sie versuchte mit ihrer Aufgabeneinteilung die drei ältesten Kinder von Emma zu trennen. Mit all ihren Aktionen wollte sie zeigen, dass der Kampf gegen Emma noch nicht vorbei war, sie wollte gewinnen.
Aber dieses Spiel konnte Emma auch spielen. Dann erwiderte sie eben den Machtkampf.
Auch bedeutete dieser Kampf, dass es immer noch Hoffnung auf Freiheit gab, und diese Hoffnung füllte sie mit neuem Ehrgeiz.
Sie musste nur irgendwie mit einem der drei Kinder Kontakt aufnehmen, ohne dass Isabella ihr im Nacken saß.

"Ich will später auch Mama werden!", rief ein kleines Mädchen.
"Ich auch!", riefen die einen Kinder, während die anderen Isabella mit Lob überhäuften.
"Mama ist die Beste!"
Ein Junge sah traurig drein.
"Aber warum gibt es eigentlich keine Papas?", fragte er und blickte auf sein Bild. Er hatte sich selber neben einen großen Mann gezeichnet.
Emmas Herz brach entzwei bei diesem Anblick, doch sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Einerseits könnte sie den Kindern Angst einjagen, wenn sie sagte, dass Papas nicht so viel Liebe den Kindern schenken könnte, andererseits fiel ihr aber auch nichts besseres ein.
"Papas wollen ihre Liebe nur ihren eigenen Kindern schenken, weil sie ihre eigenen Kinder ganz besonders lieben", lenkte Isabella ein.
Der Junge erhob sich und klopfte auf den Tisch.
"Dann werde ich der erste Papa hier!", rief er mutig und bekam einen tosenden Beifall von seinen Freunden.

•••

Die Nacht war angebrochen, die Kinder lagen alle bereits im Bett und versanken nach und nach im Land der Träume. Emma lief den langen Gang entlang zu ihrem eigenen Zimmer, für heute wollte sie einfach ihre Ruhe.
"Emma."
Isabella's Stimme klang streng, als würde sie mit einem Kind reden wollen. Langsam drehte sie sich um und sah in die violetten Augen, die sie scharf musterten.
Entschlossen trat sie einige Schritte näher und sprach barsch: "Drei Kinder wissen von dem Geheimnis."
Mehr sagte sie nicht. Sie drehte sich einfach um und verschwand in ihr Zimmer. War das eine Warnung für Emma? Egal was Isabella damit bezwecken wollte, es nahm ihr auf alle Fälle den Wind aus den Segeln. Emma durfte sich davon nicht beeindrucken lassen, sonst wäre ihr Vorhaben hinfällig.
Sie atmete tief ein und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer.

Plötzlich ließ ein lauter Knall die Wände erzittern. Wie festgefroren blieb Emma zunächst in der Tür stehen.
"Was war das?", flüsterte sie zu sich selber, fast schon hilflos.
Isabella stürmte aus ihrem Zimmer, Emma wirbelte herum.
"Was war das?", fragte sie erneut, diesmal lauter und ängstlicher.
"Ich weiß es nicht", antwortete Isabella in einem Atemzug und lief weiter, um nach den Kindern zu sehen.
"Es kam jedenfalls nicht vom Haus."
Emmas Vorstellungskraft ging alle möglichen Szenarien durch. War irgendetwas hier eingebrochen? Ist irgendetwas in den anderen Plantagen geschehen? Sie musste einfach nachsehen, nur bräuchte sie etwas, um sich zu verteidigen.
Sie warf einen Blick in das Zimmer der Älteren und entdeckte einen Bogen samt Köcher an der Wand hängen. Rasch legte sie sich den Köcher über die Schulter und hielt den Bogen in der Hand.
Sie erschien in der Tür des Kinderzimmers und sah sie selbstsicher an.
"Emma, bleib hier!", rief Isabella ihr hinterher und sah sie an, als wäre sie nur ein kleines, verletzliches Kind. Nein, Emma war 21 Jahre alt, sie war nicht mehr klein und hilflos, das musste Isabella jetzt einsehen.

Der Bogen ruhte in ihrer Hand, ein Pfeil spannte zwischen der Sehne und dem Bogengriff.
Der Wald war leblos, nur die Blätter bewegten sich im leichten Wind. Bei jeder einzelnen Bewegung wurde Emma aufmerksam.
Plötzlich raschelte der hohe Busch neben ihr, sodass Emma erschrocken herumwirbelte und die Sehne versehentlich losließ.
Ein schmerzerfüllter Schrei erklang, sie hatte tatsächlich einen Eindringling getroffen. Schnell schnappte sie sich einen weiteren Pfeil und zielte auf den Busch.
"Verdammte scheiße, ich mach' dich kalt", hörte sie eine männliche Stimme wütend Knurren.
Der Lauf eines Gewehres schob sich aus dem Gebüsch, dicht gefolgt von seinem Führer.
Die Spannung verschwand aus dem Bogen, Emma ließ ihre Waffe auf den Boden fallen. Sie starrte den Mann vor ihr einfach nur an, und er blickte sie an, er war wie erstarrt.

Can you kill a Secret? | The Promised Neverland FanficWo Geschichten leben. Entdecke jetzt