• kapitel 3 •

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Ein kleiner Schmerz zuckte durch Emmas Hand, als sie sich beim Nähen mit der Nadel in den Zeigefinger stach. Sie war schon einige Monate im Training hier, und für gewöhnlich lieferte sie perfekte Ergebnisse ab, doch heute war sie viel zu unkonzentriert. Ein kleiner Blutstropfen bildete sich auf ihrer Fingerkuppe.
Sie legte ihren Finger an den Mund und entfernte den kleinen Tropfen mit der Zunge, dann wischte sie ihren Finger an der Kleidung ab.
Tag für Tag musste sie dasselbe Programm durchlaufen, und Tag für Tag lieferte sie dieselben Ergebnisse ab.
Nähen, Sport, Erziehung, Nähen, Sport, Erziehung, Nähen, Sport, Erziehung.

Als sie mit ihrer Aufgabe fertig war, trottete sie ins gemeinschaftliche Badezimmer, wo sie auf zwei weitere Mädchen traf.
"Hast du schon gehört? Grace Field soll abgefackelt sein", erzählte das eine Mädchen.
Emma stellte den Wasserhahn ab, um besser zuhören zu können.
"Das ist doch Schwachsinn", antwortete das andere Mädchen.
"Derjenige, der das erzählt hat, will doch nur Panik machen."
"Nee, ist wirklich passiert!", entgegnete das erste Mädchen ein wenig empört.
"Das hat irgendein Wissenschaftler zu Großmutter Sarah gesagt!"
Im kleinen Spiegel vor ihr versuchte Emma, die beiden Mädchen zu beobachten. Sie waren beide älter und größer als Emma, das erste Mädchen hatte lange, blonde Haare und das zweite etwas kürzere, rote Locken.
"Und wie soll das passiert sein? Hat irgendwer Küchendienst gehabt, der aber nicht kochen konnte?"
Die Blondine schüttelte hektisch den Kopf.
"Ein Kind hat das Haus angezündet und ist mit 13 weiteren Kindern geflüchtet!"
Emma konnte nicht recht glauben, was sie hörte. Bedeutete dies, dass Ray und die anderen erfolgreich entkommen sind?
Die beiden Mädchen liefen in ihrer Unterhaltung vertieft an Emma vorbei, ohne sie zu beachten.

Sie seufzte leise auf. Eine Welle der Erleichterung packte sie. Ray hatte es geschafft! Gilda, Don, Thoma, Lannion, sie alle konnten sich endlich in Sicherheit bringen!
Jedoch sah Emmas ursprünglicher Plan vor, mit allen zu flüchten. Sie selber und Norman eingeschlossen, doch nun war sie der Vogel im Käfig, ohne Ausweg aus diesem elendigen System.
"Hey Emma, herzlichen Glückwunsch", erklang eine bekannte Stimme hinter ihr. Hannah betrat gerade das Badezimmer und klopfte Emma auf die Schulter.
"Sieht wohl so aus, als hätten deine Freunde es geschafft."
Emma drehte sich zu ihr um, eine Freudentränen kullerte langsam ihre Wange herunter. Sie fiel Hannah in die Arme.
"Ja, sie haben es geschafft. Was für ein Glück!"
Hannah jedoch schien nicht im geringsten so erfreut darüber zu sein.
"Aber was bringt dir das? Die anderen leben ihr Leben, und du bist hier gefangen..."
"Ich freue mich einfach für sie", meinte Emma etwas wehmütig. Hannah hatte nicht unrecht, schließlich konnten ihre Freunde von nun an ein freies Leben aufbauen, und ihr Leben konnte man nicht als solches betiteln.

"Ich versteh' das nicht... Ist dir dein eigenes Leben denn vollkommen egal?", fragte die Brünette verwundert.
Emma legte ihren Kopf schief. Was redete sie denn da?
"Also ich bin glücklich, wenn meine Freunde es sind", meinte sie nachdenklich. Hannah zuckte nur mit den Schultern.
"Wenn du mich fragst, würde ich hier lieber ausbrechen wollen."
Mit diesen Worten verschwand Hannah aus dem Badezimmer, Emma blieb verunsichert zurück. Natürlich wollte sie hier entkommen, aber durch den Chip in ihrer Brust war es ihr nicht mehr möglich. Oder wurde vielleicht gar nicht jedem ein Chip implantiert?

•••

Konzentriert starrte Emma auf den grell leuchtenden Bildschirm. Auch hier musste sie täglich einen Test absolvieren, wie im Grace Field Haus. Selbst die Aufgaben waren ähnlich gestellt als in der Plantage, daher war es nicht verwunderlich, dass Emma auch hier zu den Top Scorer gehörte.
Plötzlich verdunkelte sich der ganze Raum, ein apokalypsenartiger Alarm ging los.
Vor Schreck zuckte das Mädchen zusammen und hielt ihren Stift fester. Panisch sah sie sich um, doch die konnte nicht einmal ihrer eigene Hand erkennen, wenn sie sich diese vor ihr Gesicht halten würde.

"Es hat einen Fluchtversuch gegeben", verkündete Großmutter Sarah, die bei diesem Test anwesend war.
"Keine Panik, es wird sich um die entsprechenden Personen gekümmert."
Emmas Herz bebte. Würden sie alle nun sie Konsequenzen zu spüren bekommen, oder nur die Flüchtigen?
Als die alte Frau von einem Fluchtversuch redete, hatte sie ein ganz anderes Bild vor Augen gehabt. Sie hatte Angst, dass sie Ray und die anderen geschnappt hätten.
Das Licht flackerte unheimlich, ehe es wieder vollständig funktionierte.
Vor den ganzen jungen Frauen und Mädchen stand Großmutter Sarah, und zu ihrer rechten sah Peter auf sie herab.
Sie waren wie Tag und Nacht, Großmutter Sarah war nur das Zahnrad, was das ganze Getriebe zum Laufen brachte, sie hatte erkennbares Mitleid mit den anstrebenden Plantagenleitern. Peter Ratri dagegen war der Wächter über das Getriebe, und er sah nur das Getriebe, keine Menschen dahinter. Für diesen Mann waren sie alle nur Werkzeuge.

Emma drehte sich nun im hellen um, schaute sich nach den anderen um.
Zwei Plätze waren leer, sonst war der Raum voll besetzt.
Mit lauten Schritten traten nun zwei Monster herein, beide hielten jeweils ein Kind an der Hand. Ihr Herz rutschte ihr in die Hose, als sie das erste Gesicht sah:
Hannah lächelte verlegen drein. Emma wollte das nicht wahrhaben. Wieso hat sie versucht, zu flüchten? Wieso müsste sie sich jetzt von einer Freundin verabschieden?
Sie ballte ihre Faust. Das Leben war doch so ungerecht, so dachte sie.
Das zweite Mädchen, welches von einem Monster in den Raum geleitet wurde, sah noch viel jünger aus. Es war das schwarzhaarige Mädchen, welches plötzlich in Emmas Krankenzimmer erschien und erschrocken wegrannte.
"Diese beiden sind die Flüchtigen?", fragte Großmutter Sarah streng. Stumm nickte das erste Monster.
"Nun denn. Dann werdet ihr nun alle erfahren, was mit denjenigen passiert, der unbedingt flüchten möchte."
Die alte Frau stellte sich zwischen den beiden Mädchen auf und berührte sie an der Schulter.
"Hannah, Zoe, wir haben jemanden gefunden, der euch adoptieren will."
Hannah lächelte Emma nur traurig an, jedoch gefror dem Lockenkopf das Blut in den Adern. Sie sah Emma mit genau demselben Blick an, wie auch Norman sie angesehen hat. Sie war das Mädchen, dass sich so sehr nach Freiheit sehnte, dass sie in den Tod rannte.

Sie wurden von den Monstern abgeführt, und der ganze Raum war noch immer stumm. Niemand wagte es auch nur, sich zu regen.
Nun wussten sie alle, was denen droht, die frei sein wollten.

Can you kill a Secret? | The Promised Neverland FanficWo Geschichten leben. Entdecke jetzt