• kapitel 14 •

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"Emma, komm her!", rief Anni und streckte einen Arm aus. Sanya trat Ray immer näher, sie war bereit, den Stuhl als Waffe einzusetzen.
"Und du, du Typ...", knurrte sie, ehe sie den Griff um die Stuhllehne noch einmal verfestigte.
"Du gutaussehender Typ..."

Anni hielt in ihrer Bewegung inne und schielte zu Sanya. Lucy musste sich zur Seite drehen und kichern, Ray hingegen legte den Kopf schief und nahm seine Arme wieder hinunter. Er hatte bemerkt, dass diese drei jungen Frauen auf keinen Fall irgendeine Bedrohung darstellten.
"Sanya... Du weißt schon, dass man den Feind nicht loben sollte?", fragte Anni nach, sie schien ein wenig die Fassung verloren zu haben.
"Ja, aber der Typ da sieht doch gut aus!", protestierte sie und ließ den Stuhl sinken. Emma erhob sich nun, warf die Decke auf das Bett und nahm Sanya den Stuhl ab.
"Was macht ihr drei denn hier?", fragte Emma überrascht, als hätten sie nicht gerade eben eine Attacke gestartet.
"Wir haben gehört, dass du in so kurzer Zeit zur Mama geworden bist, da wollten wir dir einen Besuch abstatten", erklärte Lucy lächelnd.
"Genehmigt natürlich", fügte Anni hinzu.
Sanya schubste die beiden ruckartig beiseite, sodass sie vor Emma stand.
"Warte einen Moment!", rief sie und legte ihre Hände auf ihren Schultern ab.
"Ich wusste gar nicht, dass du einen Freund hast!"
"Eh?", gaben Emma und Ray gleichzeitig von sich. Ray erhob sich, trat auf die kleine Gruppe zu.
"Er ist ein Eindringling", meinte Anni nur, und sofort wandte sich Sanya wieder dem Schwarzhaarigen zu.
"Du... Du komischer Kerl du... Du komischer, gutaussehender-"
"Das reicht jetzt, Sanya", sprach Lucy und zog sie zurück.

Derweil holte Emma das kleine Gerät aus einer Schublade hervor, sie wollte ihre drei Freundinnen nun offiziell in den Plan mit einbeziehen.
"Ray, kannst du vielleicht noch drei weitere Waffen anschaffen?", fragte sie, während sie die drei Frauen auf dem Bett platznehmen ließ.
Stumm nickend verließ er den Raum und machte sich auf den Weg.
"Also, Mädels", sprach Emma und hielt das kleine Gerät zum deaktivieren des Chips hoch.
"Dieses kleine Teil dient zu unserer Flucht von hier."
"Was ist mit den Monstern?", warf Sanya sofort ein, bekam dafür aber auch einen sanften Schlag gegen den Hinterkopf von Anni.
"Dieses Gerät kann die Chips unbemerkt deaktivieren. Ich hab's bei mir schon gemacht, Großmutter Isabella steht auch auf unserer Seite. Und bei den ältesten Kindern habe ich den Chip auch schon deaktiviert."
"Werden wir mit allen Kindern von allen Plantagen flüchten?", fragte Lucy und legte ihre Hand ans Kinn. Solch ein Vorhaben würde sich als äußerst schwierig herausstellen, doch wenn alle mitziehen, sollte das möglich sein.
"Wir flüchten mit allen, die dazu in der Lage sind", antwortete Emma.

"Jedenfalls... Der Typ gerade eben, Ray, ist einer von vielen Erwachsenen und ehemaligen Grace Field Kindern, die hier eingedrungen sind um gegen die Monster anzukämpfen. Sie kennen sich weitaus besser aus, weshalb wir uns eher darum kümmern werden, dass alle Kinder flüchten."
"Wie überreden wir die Mamas an unseren Plantagen dazu?", fragte Anni, sie hob skeptisch ihre Augenbraue.
"Ganz einfach: Sie gehen mit dem Gruppenzwang. Wenn eine Gruppe Fremder, ich und Großmutter Isabella mit Waffen auf Ratri zielen, was würdet ihr dann machen?"
Die Antwort war jedem klar. Natürlich würde jeder Mensch, der auch nur ansatzweise einen gesunden Menschenverstand besaß, sich nicht gegen die Mehrheit wenden.
Emma räusperte sich kurz, dann fuhr sie mit der Erklärung des Plans fort:
"Sobald Isabella uns ein Zeichen per Funk gibt, werden die Eindringlinge die Zentrale angreifen, wir werden wahrscheinlich dazu angeleitet, die Kinder durch den Tunnel in Sicherheit zu bringen. Die drei ältesten Kinder hier leiten die Flucht dann an."
Im Türrahmen erschienen Carol, Riko und Paul. Sie hatten den Auftrag bekommen, so viele Chips wie nur möglich zu deaktivieren, später hatten sie dazu keine Zeit mehr.

"Die sind ja aber knuffig!", rief Sanya ganz entzückt. Emma musste schmunzeln, sie kannte die Kinder mindestens so gut um zu wissen, dass zumindest Riko das komplette Gegenteil von knuffig war. Und das demonstrierte er ihr sogleich, mit einem fiesen Blick.
"Wir haben jetzt von allen Kindern die Chips deaktiviert", berichtete Carol und überreichte Emma ein weiteres Gerät.
"Sehr gut. Und wie sieht es mit dem Fitnesstraining aus?"
"Die Kleineren sind noch nicht fit genug, aber die Älteren können eines der Kleineren tragen wenn nötig", erklärte Riko.

Das Stampfen von Stiefeln ließ die Holzdielen quietschen. Kurz spannte Emma ihren Körper an, doch schnell beruhigte sie sich wieder. Ray trat in den Raum ein, drei Gewehre ruhten auf seinen Armen.
"Ist es in Ordnung, wenn wir uns ein wenig im Haus niederlassen?", fragte Ray, obwohl es bereits zu spät war. Der ganze Trupp setzte sich an den langen Esstisch, als wären sie die Waisenkinder hier.
"Soll ich für euch etwas kochen?", entgegnete Emma lächelnd, der Schwarzhaarige wunk jedoch ab.
"Ich werde kochen", meinte er nur belustigt.
"Besser so", gab Riko von sich und blickte Emma herausfordernd an. Zugegeben, sie war nicht die Beste im Kochen, aber genießbar waren die Mahlzeiten allemal.
"Wie lange wollt ihr bleiben?", fragte sie und sah zu ihren Freundinnen zurück. Sanya zuckte mit den Schultern, auch Lucy schien ratlos.
"Also mir wurde gesagt, dass ich morgen früh spätestens zurück sein sollte", meinte Anni, sofort stimmten die anderen beiden ihr zu.

Emma trat zuerst zu Sanya und drückte das Gerät an ihre Brust. Sie betätigte den kleinen Knopf und nur wenige Sekunden später war sie sich sicher, dass der Chip deaktiviert war. Das wiederholte sie ebenso bei Anni und Lucy, damit hatte sie drei Verbündete bei der Flucht gewonnen.
"Dann würde ich sagen, stelle ich euch meine Freunde vor",  meinte Emma fröhlich und verließ ihr Zimmer.
Der Anblick, der sich ihr bot, war herzerwärmend. Die Kinder näherten sich den Fremden neugierig, freundeten sich mit ihnen an und spielten mit ihnen. Man könnte meinen, es wäre ein großes Aufeinandertreffen einer gesamten, riesengroßen Familie an einem Festtag. Theoretisch waren sie das auch, mehrere Generationen des Grace Field Hauses und anderer Plantagen, die sich alle ein tragisches Schicksal teilten.

Nicht mehr lange, dachte Emma. Sie würde alle von ihnen mit in die Menschenwelt nehmen, keiner sollte zurückbleiben.

Can you kill a Secret? | The Promised Neverland FanficWo Geschichten leben. Entdecke jetzt