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Es ist bereits dunkel, als ich die Holztür unseres Reihenhauses aufschließe. Zu meinem Glück schreibe ich meine Physikklausur erst morgen Mittag, also macht mir die späte Uhrzeit nichts aus. Ich ziehe Jacke und Schuhe aus, stelle meine Tasche ab und schleiche mich leise in Richtung Küche. Als ich den Raum betrete um den Lichtschalter zu suchen, fällt mir ein dunkler Schatten ins Auge. Erschrocken haste ich zum Lichtschalter, unfähig den Umriss zu identifizieren. "Mama?", rufe ich erschrocken, nachdem ich das Licht eingeschalten habe. Wie ein Häufchen Elend sitzt meine Mutter am Esstisch, vor ihr ein Glas Wein, die rot verquollenen Augen in eine unbestimmte Ferne gerichtet. "Mama... ist alles okay?", frage ich, während ich langsam zu ihr gehe. Sie hebt den Kopf und sieht mir direkt in den Augen. Ihr Anblick macht mich sprachlos, sie sieht um Jahre gealtert aus. Die Falten um ihre Augen gleichen tiefen Kratern. Ich nehme neben ihr Platz und beginne, Mamas Rücken sanft zu streicheln. "Mama, bitte. Was ist los?", wage ich einen neuen, vorsichtigen Versuch. Ein qualvolles Schluchzen entfährt ihr. "Dein Vater.. Paul hat uns.. mich verlassen..", bringt sie stammelnd hervor. Ich weiß nicht, was ich ihr entgegnen soll, sitze einfach da und beobachte, wie meine Mutter neben mir zusammenbricht. Die Tränen quellen nur so aus ihren Augen, ihr zierlicher Körper bebt. Obwohl mir tausend Fragen durch den Kopf schießen, bin ich gelähmt, unfähig auch nur einen Gedanken in klare Worte zu fassen. Meine Mutter beugt sich zu mir hinüber, schließt mich fest in die Arme und so sitzen wir dort für einige Minuten, fest umschlungen und doch so verloren.
Schließlich spüre ich, wie meine Mutter tief Luft holt, als würde sie nach einem langen Tauchgang endlich ihre Lungen wieder mit Sauerstoff füllen dürfen, als könnte sie die Sorgen einfach wegatmen. Beiläufig wischt sie die Tränen aus ihrem verquollenen Gesicht, greift mich fest bei den Schultern und so sehen wir uns in die Augen. "Emily, Dein Vater hat diese Entscheidung getroffen, aber wir lieben Dich und Deinen Bruder beide gleichermaßen", beginnt sie mit schwacher Stimme, "wir werden morgen einen Familienrat einberufen und alles besprechen. Ich weiß nicht, wie aber wir schaffen das. Irgendwie schaffen wir das..". Ich nicke völlig benebelt. "Danke Mama..", antworte ich leise, beinahe flüsternd. Als wäre nichts von alledem gerade passiert, schnappt sich meine Mutter das Weinglas, leert es mit einem großen Schluck und steht auf. Ich weiß nicht, ob ich sie in diesem Moment für ihre Stärke bewundern oder das Talent, eine derart große Sache unter den Tisch zu kehren, verachten sollte. Sie beugt sich zu mir hinunter, gibt mir einen Kuss auf den Hinterkopf und wünscht mir eine gute Nacht, eh sie den Raum verlässt. Zurück bleibe ich, mit einem riesigen Knoten an Gefühlen in meinem Kopf, nicht fähig den Anfang oder das Ende zu greifen.
Meine Eltern führten immer eine Bilderbuchehe. Karoline, meine Mutter, ist eine schreckliche Perfektionistin und das Familienoberhaupt. Sie ist es, die mich seit meiner frühen Kindheit zum Reiten gebracht und stets das Beste von mir gefordert hat. Lukas, mein jüngerer Bruder, und Papa sind die Träumer der Familie. Für die beiden steht Spaß immer an erster Stelle und ich denke, das hat meine Kindheit zu etwas so Besonderem gemacht - das Beste aus beiden Welten.  Niemals hätte ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass jemand in dieser Konstellation nicht  hätte glücklich sein können. Ich frage mich, wo mein Vater gerade wohl steckt. Ob er wohl eine Affäre hat?
Körperlich und seelisch ausgelaugt schleppe ich mich ins Bad. Nach dem Duschen falle ich auf mein Bett, starre die Decke an und versuche, diesen Tag zu verarbeiten. Beinahe zynisch reflektiere ich den heutigen Morgen. Habe ich mir selbst nicht mehr Spannung in meinem Leben gewünscht?  Da stehe ich undankbare Göre nun: meine beste Freundin findet Männer interessanter als mich, meine Eltern werden sich trennen und was ist das überhaupt für ein Name, Mikkael?
Ruckartig setze ich mich auf. Wo kommt das denn her? Ich werde jetzt bestimmt nicht über Mikkael nachdenken, nachdem mir meine Mutter das mit der Scheidung eröffnet hat..

Fest presse ich meine Augen zusammen, als das schrille Surren des Weckers mich am nächsten Morgen weckt. Die letzte Nacht war hart, im Traum gefangen zwischen dunklen Schatten, habe ich nicht wirklich ruhig geschlafen. Gefühlt klopft mein Gehirn im Takt meines Herzschlags gegen meine Schädeldecke. Genervt öffne ich die Augen, schlage die Decke zurück und versuche, meinen Tag zu beginnen. Es ist bereits spät am Morgen, also suche ich meine Unterlagen zusammen, bevor ich mich ans finale Lernen für die anstehende Klausur mache.
Das Haus ist leer, meine Mutter arbeitet und Lukas ist in der Schule, als ich in die Küche schleiche um zumindest ein leichtes Frühstück zu mir zu nehmen. Anschließend packe ich meine Tasche für den Tag und mache mich auf den Weg zu Gina. Ich habe für mich selbst beschlossen, ihr erst nach der Klausur von meinen Eltern zu erzählen. Es reicht, wenn ich mich durch die  elektrischen familiären Spannungen von der Physik ablenken lassen muss. 
Das seichte Gespräch über witzige Tiktoks und Memes, die Gina im Internet entdeckt hat, schafft es zwischenzeitlich sogar, mich von meinen echten Problemen abzulenken.

Trotz meiner kurzen Nacht und den jüngsten Ereignissen lief die Klausur erstaunlich gut, was nicht zuletzt auf das stundenlange Lernen zurückzuführen war. Ich bin ein Nerd, dessen bin ich mir bewusst, aber das ist eben mein Ding. Herausragende Noten bedeuten für mich Bestätigung für Fleiß und harte Arbeit.
Noch eine Sache, in der Gina und ich uns stark unterscheiden. Sie ist eine mittelgute Schülerin, eher langsam, schludrig und verpeilt, vor allem wenn es ums Lernen geht. Gerade warte ich vor der Aula auf sie, wohlwissend dass Gina als Letze und auch nur unter starkem Protest ihre Klausurpapiere abgeben wird. Wie bestellt und nicht abgeholt stehe ich also in der Ecke des langen Schulflurs, als zwei Gestalten in meine Richtung gewatschelt kommen. Zunächst nehme ich gar nicht wahr, dass Jonathan und sein unbekannter Begleiter zu mir steuern, erst als sie direkt vor mir stehen, schaue ich auf. "Hey Emily", beginnt Jonathan, ein freundlicher Ausdruck liegt in seinen Augen, "ist Gina noch drin?". Der Unbekannte hebt kurz seine Hand zum Gruß. Verdattert antworte ich: "Äh.. Hey. Ja, ist sie". Jonathan hebt zur Bestätigung seinen Daumen, schmeißt seinen Rucksack auf den Boden und lehnt sich neben mir an die Wand. Nervös streiche ich mir eine wilde Locke hinters Ohr, unschlüssig was das hier gerade ist. "Ich habe keine Ahnung, wie man freiwillig Physik wählen kann. Lief's gut?" fragt Jonathan mich da. Er wirkt ernsthaft interessiert an meiner Antwort, schaut mich direkt an und das verunsichert mich nur noch mehr. "Jep. Ich bin ziemlich gut in der Schule.", antworte ich und verziehe den Mund zu einem unsicheren Lächeln. Was für eine komplett bekloppte, nerdige und überhebliche Antwort. Beide Jungs lachen und zu meiner eigenen Verwunderung habe ich nicht das Gefühl, dass es hämisch ist. "Ich bin übrigens Chris", übernimmt da der Unbekannte das Gespräch, "und dass Jona keine Physik mehr hat, dient wohl auch dem Allgemeinwohl". Neckisch grinst er zu mir hinüber. "Idiot!", antwortet Jonathan grinsend und knufft Chris spaßhaft in den Arm. Wie angewachsen stehe ich einfach nur da, lächle nervös und nicke, während die Jungs sich spaßhaft raufen. Insgemein bete ich, dass Gina langsam mal kommt. Viel zu spät und deplatziert antworte ich: "Ich bin übrigens Emily!". Freundlich lächelt Chris mich an. Die Anwesenheit der beiden Jungs gibt mir das Gefühl, willkommen zu sein und ich bin davon ernsthaft überrascht. "Chris und ich sind zusammen im Umweltkurs",  erzählt Jonathan mir, "darüber hab ich gestern so lange mit Gina gesprochen. Wir wollen vorm Abschluss noch Kräutergärten anlegen und sie meinte, vielleicht könnt ihr zwei ja Pferdemist organisieren!". "Ja", stimmt Chris ihm zu, "das wäre super. Dann hätten wir vier quasi ein Vermächtnis an die Schule hinterlassen, wenn wir das Abi durchhaben!". Mir fällt auf, dass Chris' Augen beim Sprechen richtig leuchten, er brennt für das Projekt. "Ha!", unterbricht Jonathan ihn da lachend, "ob Du Dein Abi jemals 'durch haben' wirst, lassen wir mal offen". Er verfällt in ein gehässiges Lachen und Chris wird rot. Aus dieser Aussage und der Tatsache, dass ich Chris heute das erste Mal gesehen habe, schließe ich dass er sitzen geblieben ist. Jegliche Sympathie für Jonathan ist mit einem Mal verschwunden und Chris tut mir nur noch Leid. Ich will gerade etwas sagen, um den armen Kerl aufzuheitern, da öffnet sich die Tür zu meiner linken und heraus tritt, strahlend wie ein Honigkuchenpferd, Gina. Ihr breites Grinsen verdoppelt sich, als sie uns drei sieht. Gina läuft zu uns hinüber und umarmt jeden von uns zur Begrüßung, ehe sie eröffnet: "Meine Dame, meine Herren.. es lief richtig gut". Sie beginnt, einen derart albernen Glückstanz aufzuführen, dass die gesamte Gruppe in ein wildes Gekicher verfällt.

"Dann machen wir es so Jungs. Ihr kommt Sonntag mit dem Hänger am Hof vorbei und holt euren Mist ab. Dann können wir euch alles gleich zeigen!", beendet Gina gerade unsere angeregte Diskussion über das Anlegen der Beete. Zu viert stehen wir vor dem Schulparkplatz, die Sonne strahlt in unsere Nacken. "Cool, ich freu mich mal auf eure Pferdestärken!", zwinkert Chris mir zu. Ich ertappe mich beim Zurückgrinsen und drehe mich schnell wieder zu den anderen. Jonathan setzt gerade eine wichtige Miene auf: "Mädels ich habe eine sehr ernste Frage an euch. Wollt ihr am Samstag zu meiner Gartenparty kommen? Meine Eltern sind nicht da und der Wetterdienst hat 20 Grad angekündigt!", Hoffnungsvoll sieht er in die Runde, wobei sein Blick eindeutig an Gina haften bleibt. Diese jubelt los und fällt ihm um den Hals: "Genau das habe ich jetzt gebraucht! Du liest meine Gedanken".
Ich fühle mich verletzt, obwohl mir ganz bewusst ist, dass Gina ja noch gar nichts von meinem Dilemma weiß. Trotzdem fühlt es sich falsch an, sie so glücklich zu sehen, wenn ich beim Gedanken an zu Hause fast zerbreche. Ist es egoistisch, dass ich mein Wochenende bereits trauernd mit Gina an meiner Seite geplant hatte? Dann werde ich wohl allein bleiben..
"Emily?", höre ich da Chris' Stimme in meine Tagträume dringen, "kommst Du auch?". Ich schaue auf und sehe in drei erwartungsvolle Gesichter. "Bitte!", gurrt Gina, greift nach meinem Arm und setzt ihren süßesten Hundeblick auf. 
Trotz meiner Sorgen und Ängste ist da diese kleine Stimme in meinem Kopf, die förmlich schreit, dass ich ja sage. Ich weiß nicht, ob mich jemals jemand aufrichtig auf seiner Party haben wollte und das Gefühl schmeichelt meinem angekratzten Ego mehr, als ich es mir je eingestanden würde. Das und der Gedanke an meine Einsamkeit zu Hause, verleitet mich zu einem leichten Schulterzucken. "Klar, warum nicht", antworte ich trocken. 

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