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Gina lässt ein langgezogenes Stöhnen verlauten und fällt kraftlos in den Beifahrersitz. Nach unserer Audienz mit den Jungs habe ich auf dem Heimweg endlich den Mut aufbringen können, ihr von der Trennung meiner Eltern zu berichten. Wir stehen in ihrer Einfahrt und niemand weiß recht, was er sagen soll. Wir beobachten wortlos den vorbeiziehenden Verkehr. "Du hättest mir davon erzählen können, Emily", fängt Gina an, dreht sich zu mir und greift meinen Unterarm, "wir können die Party auch gern absagen und uns ein Mädelswochenende machen". Ihr Gesichtsausdruck ist unsicher aber freundlich. "Danke Gina", antworte ich bestimmt, "aber ich weiß wie sehr Du Dich darauf freust. Und mir tut es bestimmt auch gut, mal den Kopf freizubekommen". Gina lehnt sich wieder in den Stoffsitz und atmet laut aus. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Karoline und Paul unglücklich sind. Die beiden waren für mich immer dieses Paar aus dem Einrichtungskatalog." Diese Worte verursachen einen stechenden Schmerz in meiner Brust aber ich weiß, dass sie recht hat. Gina kennt meine Eltern seitdem wir beide im Kindergarten waren und ihre Reaktion zeigt deutlich, wie mitfühlend sie ist. "Du hast recht", antworte ich ihr nach einer kurzen Pause, "aber die beiden waren auch immer schon sehr gut darin, nach außen zu strahlen". Gina sagt dazu nichts, sie verzieht nur den Mund und nickt. Nach all den Jahren Freundschaft kennt sie nicht nur die aalglatte Fassade meiner Familie sondern auch das raue Zement darunter. Mich ihr anzuvertrauen hat sich gut angefühlt, doch das anstehende Gespräch mit meiner Familie bereitet mir Bauchschmerzen.
Wir sitzen einige Minuten einfach nur da ohne ein Wort zu sagen, im Hintergrund hören wir das leise Summen des Autoradios.
"Ich denke, ich bin bereit." sage ich mitten in die Stille. Gina weiß, was ich damit meine und drückt noch einmal aufmunternd meinen Unterarm. Wir verabreden uns für morgen früh, gemeinsam in den Stall zu fahren. Nach einer langen Umarmung zum Abschied starte ich das Auto und rolle los um die Ungewissheit, die mich seit gestern Abend beinahe zu Tode plagt, endlich aufzulösen.

Das Gespräch mit meiner Familie ist ernüchternd. Wir sitzen zu viert am Küchentisch und die Spannung in der Luft ist beinahe unerträglich. Meine Mutter hat das Wort ergriffen und erklärt uns beinahe wie ein Anwalt unsere Optionen, während sie meinen Vater keines Blickes würdigt.  Lukas sitzt breitbeinig da, spielt am Handy herum und wirkt an der Situation völlig unbeteiligt. Sein Desinteresse macht mich wütend.
In den wenigen Redepausen, die meine Mutter lässt, ergreift Papa das Wort. Seine Stimme klingt schuldbewusst aber er versucht nicht, sich seiner Verantwortung zu entziehen. Beide versichern immer wieder, dass sie uns lieben.
Als mein Vater schließlich aufsteht, sich von Lukas und mir verabschiedet und unser Haus verlässt, liegen alle Karten auf dem Tisch: Meine Eltern werden sich scheiden lassen.
Ohne ein Wort zu sagen, verlässt mein pubertärer Bruder die Küche und zurück bleiben meine Mutter und ich. Die Stimmung ist bedrückend, niemand wagt es ein Wort auszusprechen.
Ich warte einige  Sekunden, bevor ich aufstehe, um den Raum zu verlassen.
"Emily, warte", hält meine Mutter mich auf, "wir zwei müssen etwas besprechen". Sie steht auf, schließt die Küchentür und kommt zurück zum Küchentisch. Die Alarmglocken in meinem Kopf beginnen, zu schrillen, das bedrückende Gefühl in meiner Brust kehrt in Sekundenschnelle zurück. Ich setze mich wieder und sehe meiner Mutter erwartungsvoll ins Gesicht.
"Hör zu mein Schatz", beginnt sie zögerlich und greift nach meiner Hand, "Dein Vater wird sich eine Wohnung nehmen und müssen alle etwas zurücktreten.. finanziell".
Besorgt schaut sie mich an und ich ziehe blitzschnell meine Hand weg. Das Stechen in meiner Brust wird immer stärker, als greife eine Hand um meinen Hals schnürt es mir die Luft zum Atmen ab. "Du beginnst im Oktober Dein Studium, aber ich schaffe es nicht, das, Dein Auto und das Pferd zu bezahlen..". Ihre Worte reißen mir den Boden unter den Füßen weg, mir wird schwindelig und die Welt um mich herum verschwimmt in einem Schwall heißer Tränen, die sich unangekündigt auf den Weg machen. "Nein..", bringe ich unter lautem Schluchzen hervor. Die Worte meine Mutter hatten mich unerwartet aber hart getroffen und sich wie ein vergifteter Pfeil durch mein Herz gebohrt.  Ich spüre, wie sie ihre Arme um mich schlingt und schmiege mich an. Ihr Schutz und Trost geben mir Halt und so verharren wir in dieser Position, bis sich der dichte Nebel in meinem Kopf beginnt, zu lichten.
Um das Chaos in meinem Kopf zu ordnen führe ich mir alle Fakten noch einmal auf. Meine Mutter liebt mich bedingungslos, das weiß ich. Darüber hinaus ist sie selbst verletzt und dabei, ein Trauma zu verarbeiten, dessen muss ich mir bewusst sein. Geld ist das Problem, nicht meine Mutter oder ihre Andeutung, meinen Herzbuben zu verkaufen.
Plötzlich richte ich mich auf, wische die Tränen aus meinem Gesicht und sage mit klarer Stimme: "Wenn ich es schaffe, Die Stallmiete von Herzbube zu finanzieren?". Überrascht zieht meine Mutter eine Augenbraue hoch und beugt sich zu mir: "Wie willst Du das anstellen, Emi?". Die Lösung ist offensichtlich. "Ich gehe arbeiten, Mama". Nachdenklich dreht sie sich weg, um im Küchenschrank nach einem Taschentuch zu kramen. Einige Sekunden später kommt sie zurück, reicht mir den Fetzen Papier und antwortet: "Ich schäme mich so, dass wir das überhaupt in Betracht ziehen müssen." Fassungslos starre ich sie an. "Aber ich bin 18, Mama. Ich bin Dir und Papa so dankbar, dass ihr mir dieses Leben ermöglicht, es wird Zeit selbst etwas zu tun!". Ihre rauen, harten Gesichtszüge erweichen bei meinen Worten. Noch einmal nehmen wir uns in den Arm, diesmal ist es jedoch eine Umarmung voller Kraft und Zuversicht. "Ich frage morgen am Hof, ob sie vielleicht noch eine Stallhilfe brauchen. Meine Prüfungen sind fast durch und spätestens im Studium hätte ich einen Minijob gesucht." Ich stehe auf und schnaube mir kräftig die Nase. Meine Mutter greift nach meiner Hand und sagt: "Ich bin so stolz auf Dich Emily. Danke, dass Du mir diese schwere Entscheidung abnimmst." Wir lächeln uns beide an, ich drücke ihre Hand und entschwinde in mein Zimmer. 


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