Es ist jetzt eine Woche her, dass ich gesungen habe. Luke ist fast ausgerastet, ich habe bis jetzt nicht wieder mit ihm geredet. Vermutlich will er mich nichtmal mehr in der Band haben, aber bis jetzt gab es kein neues Cover, also hat Calum ihn vermutlich davon abgehalten, mich rauszuwerfen. Nur Michael redet noch mit mir, und dafür scheint er von Luke regelmäßig eins aufs Dach zu bekommen - mit regelmäßig meine ich dauernd. Immer wenn er bei mir war hat sein Handy so oft vibriert, dass er es abgeschalten hat. Wenn er nicht Michael wäre, hätte er Luke wahrscheinlich längst vor den Kopf gestoßen und ihm gesagt was er denkt, aber er ist Michael, und ich nehme es ihm nicht übel - vor einem halben Jahr hätte er sich nach Hause verkrochen und wir hätten ihn nie wieder gesehen. Es ist wichtig, dass ich mit ihm rede, ihn unterstütze - wir wissen alle, dass er das braucht, aber Luke ignoriert es jetzt völlig. Für mich ist es gleichzeitig eine Ablenkung - verbring' Zeit mit Michael, und du denkst nicht an den Unfall. Iss mit Michael Pizza, und du denkst nicht an Noah.
Aber Michael kann nicht immer hier sein.
Und wenn er nach einem langen Tag wieder geht, werden die Narben auf meinen Armen deutlicher, und die Gedanken in meinem Kopf dunkler. Denn was sonst sollte ich tun? So weiterleben, als wäre nichts passiert? Wenn es nach Luke ginge, schon. Aber es geht nicht nach Luke, mein Kopf tickt nicht wie seiner. Ich kann nicht einfach jemanden aus meinem Leben löschen, als hätte es ihn nie gegeben.
Seit er tot ist bin ich in der Zeit, die ich nicht mit Michael verbringe, oft draußen. Ich gehe hierhin und dorthin, strande in kleinen Cafés die ich noch nie gesehen habe, aber die Noah sicher gefallen hätten. Ich bemerke die seltsamen Blicke der Leute nicht, ihre abfälligen Bemerkungen wenn sie denken ich kann sie nicht hören. Der Ausdruck in meinen Augen stört sie genauso wie die Tatsache dass ich mit hochgeschobenen Ärmeln herumlaufe weil es warm ist und es mir in den letzten Tagen egal geworden ist wer meine Narben sieht. Außerdem hilft es. Der Ekel in ihren Augen stärkt einen kleinen Teil von mir der sagt, dass ich das nicht wieder tun darf. Dass ich genug Narben habe, nicht noch welche hinzufügen muss. Dass es reicht. Und gleichzeitig tut es gut den Leuten zu zeigen, dass es dir nicht gut geht. Der Gedanke dass sie wissen, du bist zerbrochen. Du bist so, wie sie auch hätten sein können - du hättest so wie sie sein können, aber du bist anders, weil du trauerst, weil du getrauert hast, weil du so viel getan hast woran sie im Leben nicht denken könnten.
Und dann gibt es noch die, die dich schwach anlächeln, bei denen du genau weißt was du zu sehen bekommst wenn sie ihre Jacken ausziehen. Die, die dich mit einem gewissen Stolz in den Augen ansehen, die sich für dich freuen dass du es geschafft hast. Die, die sich nicht über die Narben aufregen sondern sich freuen, dass nichts davon noch offen, oder verschorft ist. Die, die es wissen, und die dir Kraft geben.
Und diese Menschen kann ich anlächeln, und ich tue es, auch wenn ich weiß dass sie denken mir geht es wieder gut, auch wenn es nicht wahr ist.
Heute ist wieder so ein Tag, ich streunere herum wie eine herrenlose Katze, seh mir dies an, seh mir das an. Wie immer bin ich nicht auf der Suche nach irgendetwas, als ich ihn sehe. Noah. Er lebt noch.
Doch im selben Moment weiß ich, dass es nicht so ist, doch mein Herz krampft sich zusammen, Tränen treten in meine Augen. Ich bin inmitten einer Gruppe von Menschen stehen geblieben und wünsche mir ich könnte den Blick von ihm abwenden, nur um nicht sehen zu müssen wie er sich umdreht, aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. 20 Meter weiter ist ein Café, dorthin werd' ich mich einfach zurückziehen und der seltsame Kerl mit den leeren Augen sein, der sich einen Kaffee bestellt. Sie werden eine von diesen netten Kellnerinnen haben die ahnt, was ich durchmache und mir einen Muffin oder sowas spendiert weil ich so abgemagert bin, für einen kurzen Moment werde ich aufspringen wollen und sie anbrüllen dass sie mir damit wegbleibt aber ich werde es nicht tun, mich nur bedanken und..
Eine Hand schließt sich um mein Handgelenk und reißt mich aus meinen Gedanken. Als ich mich umdrehe steht ein Mädchen vor mir, vielleicht 17 Jahre alt mit blassen, blauen Haaren und metallisch silbernen Augen. Sie sieht mich besorgt an, und als ich versuche an ihr vorbeizusehen verstärkt sie ihren Griff um meine Hand.
"Lass mich los." Meine Stimme klingt rau und monoton, ich rede kaum noch. Sie schnaubt und verdreht leicht die Augen.
"Du bist mitten in der Fußgängerzone einfach stehen geblieben, einfach so. Wieso?" Ich werfe ihr meinen kältesten Blick zu, und als ich rede bricht meine Stimme. "Das geht dich nichts an."
"Und wenn schon. Du siehst aus wie jemand, der am liebsten auf das nächste Gebäude klettern würde und sich davon in den Tod stürzen will."
Ich schnaube abfällig.
"Ich bevorzuge andere Methoden." Mit einem Ruck reiße ich ihr mein Handgelenk weg, wobei die silbernen streifen auf meiner Haut kurz in der Sonne aufleuchten. Für einen kurzen Moment ist geschockt, Mitleid tritt in ihre Augen, doch bevor sie etwas sagen kann rede ich weiter.
"Lass mich in Ruhe. Du hast keine Ahnung wer ich bin, oder worum es hier überhaupt geht. Such dir irgendjemand anders, den du "retten" kannst, vielleicht erbarmt sich ja jemand, aber ICH bin es NICHT." Dann wirbele ich herum und lasse sie einfach stehen.
Toller Tag.