Schnell renne ich die Treppen hinunter bis zur dunkelrot-lackierten Haustür, öffne sie, gib kurz Bescheid, dass ich spazieren gehe und mache sie daraufhin sofort wieder hinter mir zu. Atmen. Ich muss wieder klar denken. Wo kann ich hin? Zu Aubrey nicht. Ihr bin ich die letzte Woche genug zur Last gefallen. Zu Tante Margret auch nicht. Sie ist meine einzige Tante und und ist wahrscheinlich schon wieder auf dem Weg zurück nach Vegas.
Komm schon, Lynn!
Denk nach.
Denk nach.
Denk nach.Der Park! Ich laufe die Straße hinunter, biege zweimal links ab und bleibe kurz stehen, um sicher zu gehen, dass niemand hier ist, der mich kennen könnte. Dann steuere ich auf eine Bank mitten im Grün zu. Ich setze mich erst einmal und atme tief durch. Ja, das hab ich gebraucht. Frische, klare Luft, die meine Lungen durchströmt und mir wieder Leben gibt.
Kurzer Frisuren- und Klamotten-Check und dann kann ich mich voll und ganz entspannen.
Meine langen braunen Haare fallen mir in leichten Wellen über die Schultern. Heute sind sie besonders weich, da ich sie gestern Abend in Vorbereitung auf die Beerdigung mit einem speziellen Shampoo gewaschen habe, das meine Haare weich, glänzend und voluminös erscheinen lässt. Meine Mutter wäre stolz auf mich, denn meistens habe ich nur einen Messi-Dutt unten am Hinterkopf oder einen hohen Pferdeschwanz.
Meine Klamotten sind, wie ich überrascht feststelle, noch immer die selben wie auf der Beerdigung. Schwarze Leggings kombiniert mit einem eng anliegenden schwarzen Top, dass ich stylisch in einen schwarzen, luftigen Rock gesteckt habe. Dazu schwarze Stiefel von meiner Tante und einen schwarzen Cardigan. Wenn nicht alles schwarz wäre, würde ich dieses Outfit sogar öfter anziehen, als nur auf einer Beerdigung.
Wie mir gerade witzigerweise auffällt, sitzt mir gegenüber das völlige Gegenteil von mir.
Ein Mädchen mit schulterlangen goldblonden Haaren. Vom Alter her vielleicht 17, also so alt wie ich, und sie ist bunt, aber stylisch gekleidet. Sie trägt enganliegende High-Waist-Jeans und dazu ein flatteriges rosa Top, das sie ebenfalls in ihre Jeans gesteckt hat. Dann noch weiße Sneaker und eine wirklich schöne Jeansjacke. Sie sieht, wie mir plötzlich bewusst wird, unglaublich hübsch aus und komischerweise trägt sie genau das, was ich auch an normalen Tagen tragen würde.
Oh nein!! Jetzt erst bemerke ich, dass sie mich die ganze Zeit beobachtet hat, während ich sie gemustert habe. Wie peinlich...
Aubrey hätte mich wahrscheinlich schon fertiggemacht, da ich ihre oberste Regel, jemanden vorteilhaft und unauffällig zu stalken, verletzt habe. Solche und weitere Regeln hat sie mir schon vor Jahren eingeschärft mit der Rede, es sei lebensnotwendig und ich würde ihr noch in 20 Jahren dankbar dafür sein.Nach diesem Fail muss ich mich jetzt aber würdevoll bei dem hübschen Mädchen mir gegenüber entschuldigen, denn niemand hat es gern, von Fremden beobachtet zu werden.
Ich stehe auf und gehe mit einem entschuldigenden (und höchstwahrscheinlich peinlich berührten) Blick zu ihr rüber. Mit einer zögerlichen Geste frage ich sie, ob ich mich zu ihr setzen dürfe und als sie mit einem freundlichen Ausdruck in ihren tiefgrünen Augen bejaht, lasse ich mich neben ihr nieder.
"Ich wollte dich nicht so blöd anstarren. Tut mir echt leid. Heute ist nicht wirklich mein Tag." Ich sehe sie abwartend an und als sie schließlich zu lachen beginnt, kann ich nicht anders, als sie verwundert anzusehen.
"Tut mir leid. Es ist nur so, dass du mir sagst, es ist nicht dein Tag und du ganz in schwarz gekleidet bist. Ich weiß gerade selbst nicht wirklich, was ich daran so komisch finde, aber die Situation gerade ist irgendwie schräg, wenn du verstehst, was ich meine." Und ob ich das verstehe.
"Glaub mir, ich weiß, was du damit meinst. Ich hab mich nicht einmal vorgestellt, sondern bin direkt zum Punkt gekommen. Jetzt im Nachhinein kommt es mir wahnsinnig dumm von mir vor." Ich verziehe mein Gesicht schuldbewusst, doch sie muntert mich mit ihrem zarten Lächeln gleich wieder auf. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber etwas an ihr strahlt so etwas beruhigendes und fröhliches aus.
"Okay, ich fang noch mal ganz von vorne an" , ich räuspere mich ganz förmlich und beginne. "Ich heiße Lynn Bryton, bin 17 Jahre alt und gehe auf eine der langweiligsten Highschools der Welt. Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich dich vorhin so unangenehm gemustert habe, denn eigentlich steht mir das überhaupt nicht."
"Kein Problem, Lynn. Ich bin übrigens Eve und bin auch 17."
"Echt? Gehst du auch hier zur Schule? Du bist mir nämlich noch nie aufgefallen."
"Nein, ich bin nur vorübergehend hier. Meine Mutter ist wegen einer ehemaligen Freundin, die leider vor einer Woche gestorben ist, hier. Die Beerdigung fand heute statt. Du siehst mit deinem Look auch so aus, als wärst du dort gewesen."
In mir zieht sich alles zusammen und Eve scheint es offensichtlich zu merken, denn sie legt ihre Hand auf meine Schulter und versucht, etwas in meinen Augen lesen zu können.
"Hey, was ist denn los? Hab ich was falsches gesagt? Wenn ja, dann tut's mir unendlich leid. Ich wollte dich nicht mit irgendetwas verletzen, das musst du mir glauben. Manchmal sage ich Sachen, die ich eine Sekunde nach dem Aussprechen sofort wieder bereue. Am besten wechseln wir einfach das Thema, was meinst du?" Ich hebe meinen Kopf und sehe jede Menge Schuldbewusstsein in ihrem Blick.
Eine Weile lang sitzen wir nur so da und schweigen vor uns hin. Nach einiger Zeit richte ich mich auf und Eve nimmt ihre Hand von meiner Schulter.
Ohne wirklich Nachzudenken, sage ich: "Meine Mutter wurde heute begraben. Sie war noch nicht alt und hatte Huntington. Vor zwei Jahren ist auch mein Vater gestorben. Er hatte Krebs. Innerhalb kurzer Zeit wurden mir die zwei wichtigsten Menschen meines Lebens genommen und ich weiß noch nicht wirklich, wie ich damit umgehen soll. Da ist nur der Schock, die Leere und die Frage, wie es weitergehen soll..."
Meine Stimme ist nun nur mehr ein Flüstern, von dem ich nicht wusste, dass es so zerbrechlich klingen konnte. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Wieso erzähle ich das, worüber ich mit niemandem reden wollte, einer wildfremden Person? Wieso wirkt Eve so unbeschwert und vertrauensvoll? Wieso vertraue ich ihr meine Vergangenheit, meine Gedanken und meine Gefühle an, wo ich sie doch erst seit höchstens einer Viertelstunde kenne?
Diese meldet sich jetzt auch zu Wort: "Lynn... ich kenne dich zwar erst seit heute, aber mir kommt es vor, als ob ich dich schon ewig kenne und dieser Gedanke macht mich glücklich. Ich fühle mich auf irgendeine Art mit dir verbunden und es bricht mir das Herz, dich so traurig zu sehen. Was kann ich tun, damit es dir besser geht?"
"Seit sie tot ist, wollen alle immer nur wissen, wie es mir geht und ob ich zurecht komme. Ich schätze das, aber ich brauche es nicht."
Meine Stimme wird wieder kräftiger und ich beherrsche mich, nicht zu schreien. "Alle wollen immer nur helfen, aber ich brauche keine Hilfe!! Ich brauche Zeit für mich, aber das will nunmal niemand verstehen! Es kann niemand verstehen! Nein, alle wollen reden! Reden, reden, reden!! Ich hab aber keine Lust zu reden!"
Mittlerweile schreie ich. Gut, dass gerade niemand außer uns hier in diesem Teil des Parks ist. Womöglich hätte ich ihm dann noch die Schuld an allem gegeben.
Und dann brechen bei mir alle Dämme. Ich sinke in Eve's Schoß und weine und schreie mir die Seele aus dem Leib. Es tut gut und Eve ist die wohl geduldigste Person, die mir je begegnet ist. Sie sitzt einfach nur da, streichelt meinen Rücken und stellt keine unerwünschten Fragen. Genau das, was ich jetzt brauche.
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how life goes
Teen FictionNachdem die 17-jährige Lynn nun auch ihre Mutter verloren hat, weiß sie nicht, wie ihr zukünftiges Leben aussehen soll, doch ihre beste Freundin Aubrey ist immer für sie da, ob in guten oder schlechten Zeiten. Als Lynn es nicht länger in ihrem große...