Es ist Samstag. Ich schaue verschlafen auf meinen Wecker und sehe, dass es bereits 11:12 Uhr ist. Gestern ist es dann doch später geworden, als erwartet. Und als ich plötzlich Aubrey auf meinem Sofa entdecke, wird mir wieder bewusst, dass auch Eve und Shawn hier bei mir zu Hause geschlafen haben.
Der restliche Tag war dann doch nicht so schlimm. Eigentlich war er sogar ein ziemlicher Erfolg, wenn man bedenkt, dass wir erst um 1:00 Uhr morgens die Bar, in die wir am Abend gegangen sind, verließen.
Nachdem wir im Restaurant von Aubreys Eltern zu Mittag gegessen und uns besser kennengelernt haben, sind wir eine Runde spazieren gegangen. Aubrey war nach dem kleinen peinlichen Zwischenfall am Anfang unserer Begegnung mit Eve und Shawn schnell wieder die Alte und hat geredet wie ein Wasserfall. Es lief wahnsinnig gut!
Mittlerweile können wir uns alle schon als Freunde bezeichnen und nicht mehr als Bekannte, obwohl das bei mir und Eve nie der Fall war.
Wie sich herausstellte, ist Shawn, wie sie, die Geduld in Person und er war mir noch vor dem ersten richtigen Gespräch, das wir führten, sympathisch. Genau wie Eve letzten Sonntag.
Es war wie ein netter Nachmittag und anschließend Abend unter Freunden. Es lag so eine Ruhe in der Luft, die wir alle sehr genossen und Smalltalk war nie ein Thema. Wie eine sehr vertraute Atmosphäre, in der wir uns befanden.
Wir hatten uns außerdem so viel zu erzählen, dass wir dann um 20:00 Uhr auch noch in eine Bar gegangen sind, darauf bedacht, keinen Alkohol zu trinken, denn hätte uns da jemand erwischt, wären wir allesamt dran gewesen.
In Brenda's Bar war es noch irrsinnig lustig. Wir hatten so viel Spaß (auch ohne Alkohol - ja, das geht) und sind bis nach Mitternacht wild über die Tanzfläche geflogen.
Die Tatsache, das unser Pärchen auch irgendwann wieder nach Hause musste, überrollte uns dann erst als wir die Bar lachend verließen.
Aus irgendeinem Grund kam ich dann auf die Idee, sie bei mir zu behalten, was mich selbst überraschte, und Mr. und Mrs. Pouls hatten nichts dagegen. Ganz im Gegenteil! Sie nahmen meine neuen Freunde so herzlich auf, dass mir der Mund aufklappte.
Zum einen, da es mitten in der Nacht und die beiden noch munter waren. Zum anderen, da ich normalerweise nie Besuch (außer von Aubrey) habe und sie da eigentlich schockiert oder verwirrt hätten sein sollen. Vielleicht aber war ich einfach nur zu müde, um mich wie ein normaler Mensch darüber zu freuen.
Meine Haushälter quartierten dann unsere beiden Gäste im Gästezimmer ein (Aubrey kann man einfach nicht mehr als Gast bezeichnen) und Aubrey ließ sich ohne zu Zögern auf mein Sofa fallen und schlief dort sofort ein.
Am meisten vom ganzen Tag überraschte mich echt, dass sie sich kein einziges Mal an Shawn rangemacht hat. Vielleicht hat sie einfach sein und Eves zärtlicher Umgang miteinander so gerührt und sie hat dann endlich einmal gecheckt, dass die beiden füreinander bestimmt sind. Oder aber sie hat sich Josh gegenüber ein bisschen respektvoller benommen, obwohl dieser das höchstwahrscheinlich nie erfahren wird.
Eigentlich ist es mir auch egal. Ich bin einfach nur heilfroh, dass der ganze restliche Tag so entspannt war, wie schon lange keiner mehr in meinem chaotischen Leben.
Ich setze mich in meinem Bett auf und reibe mir die Augen. Ich betaste meine Lippen und merke erst dann, dass ein Lächeln darauf ruht. Ein zufriedenes Lächeln.
Eve tut mir so wahnsinnig gut, dass es mich richtig erschreckt. Ich meine, ich habe eine beste Freundin, die ich seit ich klein bin kenne und sie weiß so gut wie alles über mich und ist immer für mich da. Eve hingegen, kenne ich seit nicht einmal einer Woche und mein Leben hat sich seit meiner Begegnung mit ihr so schlagartig verändert und das im Positiven! Besser gesagt: meine Einstellung zum Leben.
In ihrer Nähe habe ich das Gefühl, dass doch noch alles gut wird und dass es Menschen gibt, die mich in jeder Hinsicht unterstützen. Sie ist so ein Mensch und auch Aubrey, die Pouls, seit gestern auch Shawn und ganz tief in mir drinnen auch meine Eltern.
Jetzt fange ich an, das alles mehr zu schätzen und in dem Augenblick, in dem mir das bewusst wird, habe ich auf einmal das dringende Bedürfnis meine Eltern zu sehen. So sehr, dass es droht, mich zu erdrücken.
Schnell reiße ich mir die Decke von den Beinen, stehe auf und gehe nicht runter zum Frühstück, sondern die Treppe hinauf bis in den Dachboden.
Wo sind nur diese Erbstücke? Ich wette, da sind auch jede Menge alte Fotos von früher.
Ich krame in sämtlichen Kartons herum, finde alte, verstaubte Kassetten und schließlich auch Fotobücher. Eines von der Hochzeit meiner Eltern. Die beiden sehen so glücklich aus, denke ich, als ich ein Foto sehe, wo die beiden eng umschlungen und lachend tanzen und eine Welle von Sehnsucht überflutet mich.
Fang jetzt bloß nicht an zu heulen, ermahne ich mich, du hast die letzten Wochen schon zu viele Tränen vergossen!
Eine halbe Stunde später habe ich so gut wie alle alten Fotobücher meiner Eltern und Großeltern durchforstet. Jetzt kommen die dran, wo auch ich bereits auf der Welt bin.
Ich puste den Staub an der Oberfläche eines dicken Buches weg und schlage die erste Seite auf.
Ein Foto meines Dads, wo er mich zum ersten Mal im Arm hält. Er lächelt, wobei es irgendwie unecht aussieht, aber in dem Punkt kann ich mich auch täuschen. Trotzdem versetzt es mir einen Stich.
Es kommen weitere Fotos von mir, als ich noch ganz klein war. Dann von meiner Mutter mit einem Baby auf der Brust liegen. Ich bin es nicht. Dieses Baby hat nämlich ganz offensichtlich kein Muttermal an der Schläfe und jeder weiß, dass Muttermale angeboren sind. Wer also ist dieses Mädchen?
Es kommen weitere Bilder, wieder mit einem Baby, das nicht ich bin. Auf einem der Nächsten ist dann auf einmal auch eine mir völlig fremde Frau zu sehen. Sie hat lockiges rotes Haar und strahlt, als sie das kleine Mädchen in Moms Armen betrachtet.
Ich blättere weiter vor und sehe ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch mich. Ein paar Seiten weiter hinten aber, sind ich und das andere Mädchen zu erkennen.
Tatsächlich - nach den ersten zehn Seiten bin nur noch ich auf den Fotos abgebildet. Von der rothaarigen Frau und meines Wissens nach ihrem Kind ist nichts mehr zu sehen.
Ich bin mir fast sicher, dass es sich hierbei um eine andere Mutter und ihr Kind handelt, die auf dem selben Zimmer wie meine Mutter waren, doch irgendetwas macht mich stutzig. Wieso, weiß ich nicht, doch bevor ich noch weiter darüber nachdenken kann, holt mich eine vertraute Stimme aus meinen Gedanken und Grübeleien.
"Lynn? Wo bist du?" , kommt mir Eves Stimme entgegen.
"Ich bin im Dachboden!" , rufe ich.
"Was machst du denn da oben?!" , fragt sie etwas verwirrt, "Frühstück ist fertig! Obwohl - eigentlich kannst du es als Mittagessen betrachten."
"Ich komme!" , antworte ich nur, um ihrer Frage auszuweichen.
Aus irgendeinem Grund will ich nicht über diese Fotobücher reden. Ich nehme mir einfach mal die naheliegende Erklärung, ich wolle nicht über die alten, schönen Zeiten mit meinen Eltern sprechen. Einfach nur, um meine Gedanken etwas zu ordnen, doch da ist immer noch diese Beunruhigung.
Eines weiß ich in dem Moment ganz sicher: ich werde gleich nach Eve und Shawns Abreise noch einmal hierher kommen und dann finde ich hoffentlich Antworten auf die ganz vielen Fragen in meinem Hinterkopf.
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how life goes
Teen FictionNachdem die 17-jährige Lynn nun auch ihre Mutter verloren hat, weiß sie nicht, wie ihr zukünftiges Leben aussehen soll, doch ihre beste Freundin Aubrey ist immer für sie da, ob in guten oder schlechten Zeiten. Als Lynn es nicht länger in ihrem große...