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Das Knarzen von Eves Zimmertür reißt mich aus meinem Tiefschlaf. Völlig platt vom gestrigen Abend versuche ich, meine Augen ein Stück zu öffnen. Ich erblicke gerade noch Eve, wie sie vorsichtig die Tür hinter sich schließt. Ihr Versuch, dabei leise zu sein, scheitert leider gewaltig, denn durch dieses Geräusch werde ich erst recht munter.

Schlaftrunken sehe ich mich um. Drei Wände sind in einem reinen weiß gestrichen, eine hat einen dunkel-beigen Ton. Das Zimmer besteht grundsätzlich aus sehr ästhetischen Farben und der Einrichtungsstil ist sehr nach meinem Geschmack. Eves Bett, auf dessen Bettwäsche sich Spuren von Mascara befinden, befindet sich an der gegenüberliegenden Wand der Tür bei einem wunderschön großem Fenster. Ich habe diese Nacht auf einer mit Sicherheit genauso gemütlichen Couch nahe der Tür geschlafen.

Wie ich nach einiger Zeit bemerke, trage ich immer noch das Kleid von gestern und auch auf meinem Laken befinden sich Reste meiner Schminke. Wie sind wir gestern bitteschön hierher gekommen? Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich mit diesem Mann... oh shit!! Dieser Mann!!! Was ist nur in mich gefahren!? Am liebsten würde ich jetzt im Erdboden versinken oder die letzte Nacht aus meinem Gedächtnis löschen. Ich werde ihm zwar nie wieder begegnen, aber trotzdem ist es mir unangenehm.

Ich habe mich so stark betrunken, dass ich mich an einen fremden (wenn auch gutaussehenden) Mann rangeschmissen hab! Oh Gott, was wird nur Eve jetzt von mir denken? Wobei sie schon einiges peinliches aus meinem Leben mitbekommen hat. Aber vielleicht kennt sie diesen Mann ja und spricht ihn irgendwann mal darauf an? Nein, das würde sie nicht tun, oder?

Das muss ich aufklären. Und zwar sofort! Ich springe von der Couch auf und mache mich auf den Weg in die Küche, wo ich wie angewurzelt stehen bleibe, als ich dort jemanden erblicke, mit dem ich als letztes gerechnet hätte, ihn hier anzutreffen. Ich kann mich zwar nicht mehr ganz an den gestrigen Abend erinnern und doch würde ich diesen Jemand überall wiedererkennen. Es ist er. Der Mann von gestern.

Und erst nach einem kurzen Austausch von schockierten und peinlich berührten Blicken, die zeigen, dass er mich genauso wiedererkennt wie ich ihn, fällt mir auf, dass ich ganz schön blöd aussehen muss mit meinem vom Schlaf zerknitterten Kleid, der wahrscheinlich im ganzen Gesicht verschmierten Schminke, den spürbaren Augenringen und meinen völlig verstrubbelten Haaren.

Niemand von uns sagt etwas, also bedenke ich ihn mit einem tötenden Blick und mache kehrt, um weiter meine Freundin zu suchen. Ich bin wütend. Wütend auf ebendiesen Mann, der gestern offenbar genauso betrunken wie ich mit mir getanzt, geflirtet und mich schließlich geküsst hat und der jetzt in der Küche meiner neuen Freundin sitzt, bei der ich entspannt und sorglos das Wochenende verbringen wollte.

Schließlich finde ich Eve im Badezimmer, wo sie sich gerade fertig macht. Ihr noch nasses Haar verrät, dass sie sich bereits geduscht haben muss. Generell sieht sie viel frischer aus als ich und auch Augenringe sind bei ihr nur ganz leicht zu erkennen. WIE!?

"Eve!" , rufe ich erleichtert und schließe die Tür. "Was um Gottes Willen macht dieser Mann in der Küche?"

"Dir auch einen guten Morgen" , antwortet sie gelassen, während sie ihre Haare trocknet.

"Morgen! Also, wer ist das?"

"Das ist Edwin, Shawns Bruder. Ich hab dir doch erzählt, dass er kommt."

Oh mein Gott!

Damit hätte sich nun auch meine ursprüngliche Frage an sie erledigt.

"Mein Gott, Lynn, was ist denn los? Du bist ja ganz bleich! Setz dich erstmal hin" , fordert sie mich besorgt auf. Sie legt einen Arm um mich und führt mich zum Badewannenrand, wo ich mich dankbar hinsetze.

"Hast du mich gestern Abend denn gar nicht tanzen sehen?" , frage ich verwundert, wobei sie offenbar genauso betrunken gewesen sein musste wie ich.

"Ähm... nein!? Ich hatte echt besseres zu tun als dir beim Tanzen zuzusehen!" , sagt sie, als wäre das selbstverständlich und ein Grinsen schlich sich auf ihre zarten Lippen.

"Stimmt. Was hast du eigentlich den ganzen Abend gemacht?" Nun grinse auch ich verschmitzt und Eves Wangen färben sich verdächtig rot. "Bitte, bitte sag nicht, dass du fremd gehst!" , flehe ich sie an, denn so gern ich sie auch mag, fremd gehen geht für mich einfach gar nicht und Shawn hat sowas auch echt nicht verdient.

"Gott, Lynn!! Natürlich nicht!" , fährt sie mich mit großen Augen an. "Shawn war ja auch da. Edwin auch, wenn ich mich richtig erinnere und ich hatte einfach... meinen Spaß mit ihm und - "

"Moment mal! Du wusstest, dass er mit seinem Bruder kommt!?" , rufe ich ungläubig.

"Ich wusste ja nicht mal, dass Shawn kommt also nein. Warum ist das denn eigentlich so wichtig?" , sie sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und ihr Grinsen wird immer breiter, doch bevor sie sich mehr darauf einbilden kann, stoppe ich sie, indem ich beschwichtigend auf sie einrede.

"Nein, nein, hör zu: Ich habe gestern den gesamten Abend mit einem Typen, den ich nicht kannte, auf der Tanzfläche verbracht und wir sind... naja... ziemlich weit gegangen und - "

"Und du hast dich in ihn verknallt und dieser Typ ist zufällig Edwin?" , beendet Eve meinen Satz.

"Warte - WAS!? Nein! Im Gegenteil!!!" , versuche ich, sie aufzuklären.

"Also du hast dich verliebt, aber der Typ war nicht Edwin?"

"Nein, das auch nicht! Ich hab mich in niemanden verliebt!"

"Also war es doch Edwin!" , schlussfolgert sie triumphierend.

"Ja, das schon, aber - "

"Hab ich's doch gewusst!"

"Es ist nicht so wie du denkst! Ich wusste nicht, dass er es ist. Wie denn auch? Ich war vollkommen betrunken und hab ihn noch nie zuvor gesehen und jetzt sitzt dieser, 'tschuldigung, Trottel einfach in deiner Küche und das obwohl ich gehofft hatte, ihn nie wieder sehen zu müssen!" Nachdem ich erstmal Luft geholt habe, sehe ich Eve verzweifelt an und an ihrem Gesichtsausdruck ist zu erkennen, dass sie es ziemlich amüsant findet, was mir natürlich überhaupt nicht gefällt.

"Tut mir echt leid, aber ich hab mir ehrlich gesagt schlimmeres erwartet" , klärt sie mich in sachlichem Ton auf, doch dann hält sie es nicht mehr aus und fängt lauthals an zu lachen.

Déjà vu...

"Ist doch nichts dabei. Sag ihm einfach, dass du betrunken warst und erledigt ist die Sache. Vielleicht hast du auch Glück und er hat das alles längst vergessen."

"Erstens: Ist es doch. Ja, ich war betrunken, aber trotzdem hat er mir seine Zunge in den Hals gesteckt! Ich will diesen Mann nie wieder seh'n! Und zweitens: Er hat mich erkannt, das hab ich vorhin gemerkt."

"Tja, dann ist die einzige Lösung wohl einfach aus dem Weg gehen. Es ist Samstag. Morgen reist du wieder ab und er ist ja auch nicht die ganze Zeit da. Das schaffen wir schon." Sie legt mir einen Arm um die Schulter und drückt mich an sich. Jetzt sieht die Welt schon viel besser aus.

"Danke!" , antworte ich nur und meine es auch so. "Ach, und Eve?"

"Ja?"

"Kann ich vielleicht duschen?"

Kichernd antwortet sie: "Klar, soll ich Edwin fragen, ob er dir beim Ausziehen hilft?"

"Eve! Du kleine Ratte!" Ich befreie mich aus unserer Halb-Umarmung und boxe sie leicht gegen den Oberarm.

"Autsch!" , jammert sie und macht ein beleidigtes Gesicht.

"Ich glaube, wir wissen beide, dass du mir sowieso nicht böse sein kannst, egal was ich mache!" , stelle ich belustigt fest und Eve fängt als Zustimmung abermals zu lachen an.

Nachdem wir uns wieder beruhigt haben, verlässt Eve das Badezimmer, damit ich in Ruhe duschen kann, doch kurz bevor sie die Tür hinter sich schließt, sagt sie noch: "Ich hab dir nicht zu viel versprochen, gib's ruhig zu! Er ist wirklich heiß!"

Daraufhin muss ich wieder lachen, sage, nur damit sie mich endlich duschen lässt: "Definitiv!" und frage mich, ob da nicht auch ein Fünkchen Wahrheit dahinter steckt, wenn auch nur ein ganz kleines bisschen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 03, 2021 ⏰

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