∆ Chapter 10: Past ∆

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Kinder lachten lauthals, sie tollten ausgelassen umher.
Kinder der unterschiedlichsten Altersklassen, und unter ihnen auch das schüchterne Mädchen mit den nussbraunen Haaren.
Freundlich lächelnd schlich sie leise die hölzernen Treppen hinunter, an den kleineren Kindern vorbei. Auf ihrem Weg nach unten begegnete sie einem Jungen ihres Alters, der alle zum Versteckspiel aufforderte.
"Hey Lilith, du lahme Ente, wenn du die letzte draußen bist, musst du suchen!", rief er ihr zu.
"Na warte", knurrte sie gespielt beleidigt.
"Und wenn du letzter draußen bist, musst du uns fangen!"
"Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich Letzter sein würde. Ich bin nämlich schnell, nicht so wie du!"
Lilith knirschte mit den Zähnen, kleine Tränen stiegen ihr ungewollt auf. Sie war wahnsinnig ehrgeizig, und dazu noch sehr empfindlich.
Sie erblickte die große Gestalt neben ihr und begann zu jammern.
"Mama, Huey ist wieder gemein zu mir!"
Isabella seufzte auf und hockte sich hin, um das Mädchen in ihre Arme zu schließen.
"Mach dir keinen Kopf, Huey meint das nicht böse", tröstete sie Lilith.
"Und jetzt geh schnell raus, sonst bist du wirklich noch Letzte."
Mit neu gewonnener Motivation sprintete sie nach draußen, nur um zu sehen, dass bereits alle anderen auf der Wiese turnten.

"Ich will aber nicht fangen oder suchen, verstecken ist viel lustiger", beklagte sie sich und ließ den Kopf hängen.
"Komm schon, ich will an meinem letzten Tag auch nicht suchen oder fangen", stieg Huey ein und klopfte Lilith auf die Schulter.
"Aber egal, da ist ja noch jemand hinter dir, der verpennt hat."
Die Brünette drehte sich um und erblickte den ältesten Jungen des Waisenhauses.
"Wie kannst du nur verpennen, wenn du doch weißt, dass heute mein letzter Tag hier ist?!", schimpfte der Junge mit den blonden Haaren, die wie Stacheln vom Kopf abstanden.
"Leupho du Idiot!"
"Es tut mir doch leid", verteidigte sich der Braunhaarige.
"Dafür musst du fangen", bestimmte Huey und wandte sich sofort ab.
Lilith kicherte und klopfte Leupho auf die Schulter, wie es Huey bei ihr getan hatte. Eigentlich war sie jetzt schon traurig, wenn sie daran dachte, dass ihr engster Freund und Verbündeter nach diesem Tag nicht mehr bei ihnen im Waisenhaus lebte. Er war der Glückliche, der neue Eltern gefunden hatte.

Lilith versteckte sich auf einem großen Ast, sie war komplett ruhig, um für Leupho unsichtbar zu bleiben.
Er war ein Genie, ein geschickter Jäger. Es fühlte sich an, als wäre Leupho der große, böse Wolf, und die Kinder die armen, wehrlosen Häschen. Diesmal wollte Lilith aber nicht verlieren, und dem großen Wolf eins auswischen. Dafür brauchte sie jedoch Hilfe.
Ein panischer Schrei durchschnitt die Stille, Lilith sah auf. Der Schrei klang ganz nach Emma, einem der jüngeren Kinder. Mit einem gestohlener Kette aus Bettlaken hatte sich die Brünette ein Seil gebastelt. Als sie die leuchtend orangenen Haare des kleinen Mädchens sah, ließ sie sich mit Schwung von dem Seil tragen, sie packte Emma sicher am Arm und landete auf dem Baum gegenüber, bevor Leupho sie schnappen konnte.
Emma klammerte sich an ihren Schultern fest, während Lilith weiter im kleinen Wald verschwand.
"Weißt du, wo die anderen sind?", fragte die Brünette außer Atem und kam zum Stehen.
"Ray wurde schon gefangen, Norman sitzt im Eulenhorst-"
"Im Eulenhorst?", hakte Lilith verwirrt nach.
"Meinst du die Baumhöhle?"
Bestätigend nickte Emma, doch für die Ältere war das noch verwirrender. Sie kannte nur eine einzige Baumhöhle, und diese konnte man nur erreichen, wenn man das eingezäunte Gebiet verließ und sich zur Mauer begab. Eines Abends, als Isabella ein Kind ihren neuen Eltern übergab, hatte sie sich gemeinsam mit Huey und Leupho weggeschlichen, aus reiner Neugier. Der Ärger im Nachhinein war riesig.

Trotz dass sie noch genau wusste, was für eine Standpauke sie zu hören bekommen hatten, näherte Lilith sich doch der Mauer.
Vorsichtig hangelte sie sich von Ast zu Ast, darauf bedacht, Emma sicher auf den Schultern zu tragen.
Schließlich stand sie vor der riesigen, grauen Mauer, und im letzten Baum vor der Mauer war eine große Baumhöhle, in der Norman ruhte.
"Hey, was machst du da?", zischte ihr Huey plötzlich zu. Er hatte es sich auf den Ästen bequem gemacht, nun sprang er prompt hinunter.
"Du hast doch nicht etwa Leupho hierher gelockt, oder?"
"Nein, ich war vorsichtig", zischte Lilith ihm herausfordernd zurück. Der Blonde räusperte sich.
"Ich glaube, Norman hat Fieber. Ihm geht's nicht gut", erklärte Huey und holte den kleinen Jungen aus dem Baum. Er war mindestens so blass wie seine platinblonden Haare.
"Wir müssen ihn zurück zu Mama bringen", schlug Lilith besorgt vor, doch Huey schüttelte energisch den Kopf.
"Damit Leupho uns findet? Niemals!"
"Aber Norman geht's nicht gut!"
"Wenn ihr beide nicht gefangen werden wollt, dann opfere ich mich und bringe Norman zurück zu Mama", warf Emma ein. Sie war etwas kleiner als Norman, und doch war sie von sich überzeugt.
"Bist du damit zufrieden, Hohlkopf?", stänkerte Lilith und piekste dem Größeren in die Seite. Vorsichtig legte er Normans erschöpften Körper in Emmas starke Arme und sah zu, wie sie durch den Wald rannte.

"Weißt du, was ich einmal sehen möchte, bevor ich gehe?", fragte Huey in einem plötzlich ziemlich traurigen Ton. Lilith hatte es beim Spielen ganz vergessen, sie musste heute Abschied nehmen.
Ebenso traurig sah sie den Blonden durch ihre klaren blauen Augen an.
"Ich will einmal auf der Mauer stehen und in die Welt da draußen gucken."
Er schlenderte gemütlich zu dem grauen Stein und ließ sanft seine Hand darüber streichen.
"Komm her, wir machen 'ne Räuberleiter."
Huey hievte sie hoch und trug sie auf seiner Schulter, sodass sie sich nur noch hinstellen musste. Sachte streckte sie sich nach oben, doch an die Kante der Mauer kam sie nicht heran.
"Kriegst du mich noch ein bisschen höher?", fragte sie ihn, doch auch Zehenspitzen konnten hier nicht helfen.

Plötzlich sprang eine Silhouette über ihre Köpfe hinweg, schließlich blickte Lilith in ein violettes Augenpaar.
"Na komm, ich zieh' dich hoch", meinte Leupho von oben und streckt seinen Arm aus.
Er zog Lilith nach oben und spähte grinsend von oben auf Huey hinab.
"Ich will auch hoch", meckerte er unten. Lilith warf einen kurzen Blick zu Leupho, er nickte bestimmt. An den Beinen hielt er die Brünette fest, sie streckte ihre Hände nach dem Blonden aus, bis sie auch ihn auf die Mauer ziehen konnten.
"Übrigens, ich habe euch gefangen", schmunzelte Leupho und wischte sich seine braunen Strähnen aus dem Gesicht.
"Ich schubs' dich gleich runter", knurrte Huey und ballte die Faust, doch erst jetzt bemerkte er den Ausblick.
Auf der anderen Seite strahlte der Himmel in einem wunderschönen orange, Dank der untergehenden Sonne. Dichte Wälder umzingelten die Mauer, und direkt vor ihr klaffte eine tiefe Schlucht.
"Was", murmelte Lilith, sie traute sich nicht recht, sich dem Abgrund zu nähern.
"Was hat das zu bedeuten?"
"Ich weiß es nicht", antwortete Leupho, sein Lächeln war verschwunden. Auf einmal wirkte das Gelände um das Waisenhaus mysteriös, als würde irgendein Geheimnis dahinterstecken.

"Leupho, Lilith?", fragte Huey, auch er konnte den Blick nicht von der Schlucht abwenden.
"Lasst uns ein Versprechen machen."
Huey sah die beiden an und streckte seine Hand aus.
"Lasst uns versprechen, dass wir das Geheimnis des Waldes herausfinden, sobald unsere neuen Eltern uns aufgenommen haben."
Lilith legte ihre Hand auf die seine, und auch Leupho tat es ihr gleich.
"Wir erkunden den Wald und lüften das Geheimnis dieser Welt", meinte die Brünette.
"Ich weiß ja nicht, aber das klingt ein bisschen zu fantasievoll", sprach Leupho und kratzte sich am Hinterkopf.
"Aber wir werden den Wald erkunden und alles über ihn herausfinden, und auch über diese Schlucht."

In einer Reihe standen die drei Kinder, alle hatten sie ihre Köpfe gesenkt und lauschten Isabellas schimpfenden Worten.
"Ihr kennt doch die Regeln, wieso also klettert ihr auf die Mauer?!"
"Entschuldigung, Mama", winselte Lilith, wieder war sie den Tränen nahe.
"Dabei seid ihr drei die Kinder mit dem Top Score der letzten zehn Tests, das ist doch deine Bestleistung, Lilith..."
Sie ließ den Kopf noch etwas tiefer sinken, ihr tat ihr Vergehen ehrlich leid.
"Nun denn... Huey, deine Eltern warten auf dich, mach dich bitte fertig."

Es dauerte nicht lange, da waren alle Kinder vor der Tür versammelt, Huey stand als einziger in einem schwarzen Anzug mit einem schwarzen Hut neben Isabella, vollkommen anders als die weißen Hemden und die weißen Hosen oder Röcke.
"Auf Wiedersehen, Leute", meinte Huey und hob winkend die Hand.
"Ich schicke euch Briefe, versprochen."
Lilith und Leupho traten ein letztes Mal nach vorne, beide umarmten sie ihn.
"Wir werden uns wiedersehen, richtig?", murmelte Lilith in der Unarmung.
Huey lächelte leicht.

"Wir werden uns wiedersehen, und gemeinsam die Sterne ansehen. Das verspreche ich dir."

One by One •|• The Promised Neverland FanficWo Geschichten leben. Entdecke jetzt