Kapitel 6

9 1 0
                                    


Nachdem wir Adrien vom Klettern abgeholt und ihm zum Fußball gebracht hatten, fuhr Henry mich zu meiner Psychologin. Die Ärzte dachten, ich bräuchte psychologische Hilfe, weshalb sie mich zu meiner Psychologin Anastasia schickten. Dort war ich jetzt seit einigen Jahren mindestens zweimal pro Woche. Dazu war Anastasia meine vierte und letzte Freundin, weshalb die Stunden auch viel mehr ein Treffen unter Freunden waren.

Ich bedankte mich bei Henry für das Fahren und betrat das große Haus. Im Erdgeschoss befand sich die Praxis, im ersten Stock wohnte Anastasia in ihrer Wohnung.

Am Empfang saß wie immer Charlie, eine alte Frau, die jedes Mal wenn man kam die gleiche Geschichte erzählte. "Hey Charlie, wie geht's?"

Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie mich sah. "Oh hallo, Madison. Wie schön dich zu sehen."

"Ebenso", murmelte ich so leise, dass sie es vermutlich nicht einmal hörte. Ich mochte Charlie. Sie war so eine alte Dame, die eigentlich seit mindestens zehn Jahren im Ruhestand sein müsste. Auch wenn ihre Geschichte manchmal ein bisschen langweilig waren, weil man sie zum zigsten Mal hörte, war es toll sich mit ihr zu unterhalten. Sie verhielt sich immer als wäre sie die Oma von einem.

Charlie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und brachte ein zuckersüßes Lächeln über die Lippen. So ein typisches Oma-Lächeln. "Du Madison, habe ich dir eigentlich schon erzählt, wie mein Mann mir damals einen Heiratsantrag gemacht hat?" Ich konnte gar nicht antworten, denn sie erzählte schon: "Wir waren damals auf einem Roadtrip, kurz nachdem wir mit der Schule fertig waren. Trotz des Sommers war die Nacht eisig. Als ich vom Wasserlassen wiederkam, war unser Van wundervoll geschmückt. Überall waren Kerzen und es lief romantische Musik. Während ich also meinen heißen Glühwein trank, ging er vor mir auf die Knie. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für ein Moment war." Oh nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich hörte die Gesichte ja auch nur zum 300en Mal. "Schade, dass du so eine Niete im Verlieben bist." Dankeschön, das war ja wirklich sehr nett.

Wie aus dem Nichts spürte ich zwei Hände an meiner Hüfte. Der warme Atem, den ich an meinem Ohr spürte, löste an meinem ganzen Körper Gänsehaut aus. Ich schluckte, als ich sah, dass Charlie nur ihre Augenbrauen hochzog und schmunzelte.

"Du bist dran", hauchte mir eine nur all zu bekannte Stimme ins Ohr. Ich drehte mich um und stand vor Samuel. Verwirrt zog ich meine rechte Augenbraue hoch. Was machte der denn hier?

"Danke", murmelte ich und drehte mich zu Charlie um. "Ich bin dann mal weg, ne?"

Charlie nickte mir kurz zu, wandte sich dann an Samuel. Sie sagte irgendwas von wegen Grüße ausrichte. Typisch Charlie.

Auf dem Weg zu Anastasias Büro, traf ich auf ihren Bruder. "Hey Madison, kannst du heute vielleicht noch vorbeikommen, wegen des Gartens? Ich bekomme morgen früh Besuch und es wäre schon, wenn dann schon die neuen Rosen drin wären." Er war auch einer meiner Kunden. Nachdem ich ihm zugesagt hatte, ging ich schließlich wirklich in Anastasias Büro.

Sie saß in Jeans und T-Shirt auf dem Schreibtisch und trank eine Cola. Als ich an ihr vorbei ging, schnappte ich mir ihre Cola. "Danke!", lachte ich.

"Hey, das ist meine." Sie nahm mir die Cola wieder weg. "Nimm dir gefälligst eine eigene!"

Gespielt enttäuscht ging ich zu dem kleinen Kühlschrank, der hinter ihrem Schreibtisch stand, und nahm mir eine Cola raus.

Meine Psychologin packte einige Papiere weg und nahm meine aus einer Schublade heraus.

"Wie geht's Louis?", erkundigte ich mich nach ihrem ältesten Patienten. Er war hier in psychischer Behandlung, weil er mit der Einsamkeit nicht auskam. Ich würde mal sagen, es war die typische Einsamkeit eines Witwers.

Einen ganz besonderen MenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt