Vor der Firma blieb ich noch kurz stehen und atmete tief ein und aus.
Man konnte die Musik schon draußen hören und die Stimmung schien schon jetzt ausgelassen zu sein. Wer konnte es den Angestellten verübeln, dass sie sich auf die Arbeitspause freuten? Als ich eintrat, bekam ich sofort einen Sekt gereicht und die Eindrücke überwältigten mich. Überall liefen Kellner herum und brachten die außergewöhnlichsten Cocktails zu gut angezogenen Gästen. Viele der Leute hatte ich noch nie gesehen, die meisten wirkten auch zu reich, um mich überhaupt wahrzunehmen. Ein Augenpaar fokussierte mich allerdings schon nach wenigen Metern und ich konnte den Blick nur erwidern. Sie trug heute ein Kleid, das bodenlang war und an ihr herabfiel wie ein dunkelgrüner Wall aus Blättern. Es betonte jede ihrer Kurven und ließ ihre Augen hell leuchten. Vanessa King war wie immer eine Königin unter all den Menschen. Sie musterte mein Kleid und ihr Mund verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln. „Hey Lia", riss mich Rosie aus meinen Gedanken und unterbrach den intensiven Blickkontakt mit meiner Chefin. Sie zog mich direkt mit zu ihren Freunden und erzählte mir den neuesten Tratsch. Wir tanzten und tranken zusammen und der Abend wurde immer schöner. Als ich ein Mal auf Toilette ging, wurde ich in eine dunkle Ecke gezogen und von Vanessa um den Verstand geküsst. „Keine meiner Vorstellung könnten je an deine Schönheit herankommen", hauchte sie mir zu und ließ mich mit roten Wangen zurück. Ich lehnte mich gegen die Wand und seufzte glücklich, ich war so sehr verliebt wie noch nie in meinem Leben.
Abends versammelten wir uns alle auf der Dachterrasse des Gebäudes, auf der ich in den letzten Wochen oft gewesen war. Manchmal war Vanessa mitgekommen und wir hatten zusammen in unseren Gedanken geschwelgt. Jetzt stand sie einige Meter von mir entfernt am Geländer und warf mir hin und wieder verstohlene Blicke zu. Ihre Haare waren wie immer hochgesteckt, sodass man die weiche Haut ihres Halses sehen konnte. Rosie stand neben mir und meinte: „Gleich wird es richtig schön." Ich wusste nicht, was sie meinte, bis der Nachthimmel plötzlich von Lichtern erhellt wurde. Sofort spürte ich die Endorphine in mir, ich liebte Feuerwerk. Obwohl ich in meinem Kleid mit der dünnen Jacke darüber fror, war mir innerlich ganz warm. Ich strich mir mit meiner Hand x-förmig über mein Herz, wie ich es immer tat, wenn ich Feuerwerk sah. Dann schloss ich die Augen und wünschte mir, dass es für immer so bleiben sollte wie jetzt. Ich blickte herüber zu Vanessa und mein Herz blieb stehen, als ich sah, was sie tat. Ihr Finger strich genauso wie meiner vor wenigen Sekunden über ihr Herz und sie schloss die Augen, um sich etwas zu wünschen. Ich kannte nur eine Person, die dieses Ritual kannte und oft mit mir zusammen durchgeführt hatte. Mein Magen verkrampfte sich und mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Ihre Augen, die mir von Anfang an so bekannt gewesen waren und wie ein Zuhause für mich waren. Ihr perfektes Französisch, ihr Talent zum Schreiben und der Fakt, dass sich unsere Gedanken perfekt ergänzten. Der Moment, in dem sie meinen Namen erraten hatte, weil sie mein Lachen erkannt hatte und nicht weil sie ihn nachgesehen hatte. Ich musste mich am Geländer festhalten, um nicht zusammen zu brechen. In diesem Moment traf ihr Blick meinen und es ging mir durch Mark und Bein. Sofort sah ich vor mir, wie ich mit ihr in unserem Baumhaus saß und wir zusammen Geschichten schrieben. Ich spürte wieder den Schmerz von dem Tag, an dem sie weggewesen war. Wie hatte ich ihre Augen nicht sofort wiedererkennen können. „Auf Limax", hörte ich Rosie irgendwo in meiner Nähe sagen und es zerbrach mein Herz. Vanessa, nein, Maxime sah mich an und erkannte, dass ich es wusste. Ihre Gesichtszüge entglitten ihr und ihr Blick wurde verzweifelt. Sie hatte den Verlag nach uns benannt, unter anderen Umständen wäre das wohl eine riesige Ehre gewesen. Ich spürte, wie mir schlecht wurde und rannte hinein zu den Toiletten. Ich übergab mich und Tränen liefen über meine Wangen. Sie hatte es gewusst und mir kein Wort gesagt. So lange schon war sie von ihren Eltern unabhängig und hatte nie versucht, sich bei mir zu melden. Nicht einmal jetzt hatte sie auch nur einmal darüber nachgedacht, sich bei mir zu entschuldigen. Sie hatte mich belogen und benutzt und ich hatte es keine Sekunde lang bemerkt. Ich zitterte am ganzen Körper und wollte nur noch nach Hause. Kayla antwortete mir zum Glück sofort und machte sich auf den Weg. Überall sah ich nur den Namen des Verlags, der mich daran erinnerte, wie dumm ich war. Natürlich hatte ich ihr viel zu schnell vertraut, weil sie mir immer noch vertraut war. Nach so vielen Jahren, in denen ich dank ihr und meinem Vater keine echte Beziehung hatte führen können, musste ich mich ausgerechnet in sie verlieben. Mit verschwommenem Blick lief ich durch die Straßen und war erleichtert, als ich Kayla vor mir erkannte. Sie musterte mich besorgt und stützte mich halb beim Gehen. Zuhause machte sie mir sofort einen Tee und deckte mich zu. „Ich muss...", schluchzte ich und zerrte an dem Kleid, das ich nicht mehr sehen wollte. Zum Glück verstand Kayla mich auch ohne Worte und half mir, es auszuziehen. Sie zog mir ein Shirt über und setzte sich dann zu mir. Ich zitterte immer noch am ganzen Körper, doch der Tee half etwas. Mein Handy vibrierte ständig, doch ich wollte nicht sehen, wer nach mir suchte. Ich schaltete es aus und betrachtete ewig lang nur die Wand. Kayla drängte mich nicht dazu, mit ihr zu reden, ließ mich aber keine Sekunde aus den Augen. Dauernd sah ich Erinnerungen vor meinem inneren Auge, die mich weiter herunterzogen. Immerhin verstand ich endlich, warum Max mich damals verlassen hatte und dass es nicht ihre Schuld gewesen war. Ihre Eltern waren keine guten Menschen und ihr Leben war nie leicht, aber ich wäre immer für sie da gewesen. Warum hatte sie nie nach mir gesucht, wenn sie doch immer allein gewesen war? Ich verstand gut, dass sie den Namen ihrer Eltern nicht hatte behalten wollen und einen Künstlernamen gesucht hatte. Wäre sie nur halb so arrogant, hätte sie sich den Namen ihrer neuen Assistentin durchgelesen und mich nie eingestellt. Sie hatte sich so sehr verändert und gleichzeitig bemerkte ich immer mehr, dass sie immer noch der gleiche Mensch war. Die Kleinigkeiten, die ich so liebenswert an ihr fand, waren die Dinge, die sie schon als Kind ausgezeichnet hatten.
Irgendwann streichelte Kayla mein Bein und ich löste mich aus meiner Starre. „Soll ich dich nach Hause bringen?", fragte sie und sofort sammelten sich wieder Tränen in meinen Augen. Ich nickte stumm und sofort packte Kayla einen Koffer für mich. Die Autofahrt durch die Dunkelheit der Nacht bekam ich nicht bewusst mit und auch nicht die Umarmung meiner Mutter oder die netten Worte meiner Schwester.
Mein Herz lag in tausend Teilen auf dem Dach des Verlages, den ich am liebsten nie wieder betreten würde.
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Show me your dark lines
RomanceEine neue Stadt, ein neuer Job, eine große Chance. Lias Leben verändert sich von einem Tag auf den anderen und sie lernt Vanessa King kennen. Eine unverbesserliche, arrogante und umwerfende Frau, die in Zukunft ihre Chefin sein wird. Wäre da nur nic...