22.

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Ich öffnete meine Augen und merkte, dass sie ganz verklebt vom ganzen Weinen waren.

Mein Körper fühlte sich an, als hätte ich viel zu lange geschlafen und die hochstehende Sonne bestätigte meinen Verdacht. Ich lief langsam runter in unsere Küche und schnappte mir ein trockenes Brötchen, an dem ich ewig lang nagte. Ich schlurfte über unseren Hof und durch das Dorf, in dem zum Glück kaum etwas los war. Meine Mutter war arbeiten und meine Schwester in der Schule. Allerdings kamen beide zum Mittag zurück und versorgten mich, so gut sie konnten. Über meine Gefühle wollte ich mit keinem reden und ich war froh, dass mich keiner dazu zwang. Den ganzen Tag aß ich kaum etwas und trank nur etwas Tee. Auch die zwei folgenden Tage verbrachte ich damit in der Gegend herumzulaufen und immer die gleichen Gedanken zu haben. Ich versuchte alle Gefühle einfach niederzuringen und solange ich nicht redete, ging das gut. Meine Schwester versuchte mehrmals, etwas aus mir herauszukitzeln, doch ich blieb standhaft und schwieg. Logan nahm mich am Mittwoch mit zum Angeln und ich genoss es, auf dem Wasser zu sein. Ich hatte den See in unserer Gegend immer gern gemocht. Wir fingen tatsächlich sogar einige Fische, die Logan am Abend für alle auf den Grill schmiss. Ich machte wie jeden Abend einen Spaziergang und passierte das Haus, in dem Maxime damals gewohnt hatte. Vorsichtig strich ich über das neue Namensschild, das die Vergangenheit versteckte. Ich hielt die Tränen zurück und lief wieder zu unserem Haus, weil es langsam dunkel wurde.

Vor unserer Einfahrt parkte ein Auto, das überhaupt nicht in die Gegend passte und als ich näherkam, erkannte ich das Modell. Es war einer von den Wagen, mit denen ich bei Limax immer gefahren worden war. Ich beschleunigte meine Schritte und sah meine Mutter vorm Haus stehen. Vor ihr stand die Person, die ich im Moment auf keinen Fall sehen wollte und sagte nervös: „Hallo Tanja." Meine Mutter musterte sie und schien etwas verwirrt. Bevor ich bei ihnen ankam, ergänzte sie: „Ich bin es, Maxime." Die Augen meiner Mutter weiteten sich erstaunt und ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Mit Tränen in den Augen zog sie Max in ihre Arme und drückte sie fest an sich: „Mein armes Kind." Als die beiden meine knirschenden Schritte wahrnahmen, ließ meine Mutter Maxime los. „Lia, du wirst es nicht glauben", sagte sie und um nicht vor ihr zusammen zu brechen, spielte ich einfach mit. Sie sagte mir, wer die Person vor mir war und ich tat so, als wäre ich überrascht. Die Tränen in meinen Augen, würde meine Mutter wohl mit Freudentränen verwechseln. Ich schaute Maxime absichtlich nicht in die Augen, als ich sie umarmte. Ihr Geruch umhüllte mich und ich krallte mich an ihren Mantel, um nicht zu schluchzen. Sie zu sehen, tat so gut und weh gleichzeitig. „Lass es mich erklären", flüsterte sie in mein Ohr, sodass nur ich es hören konnte. Ich löste mich von ihr und trat einen Schritt zurück. „Ihr habt euch sicherlich viel zu erzählen, ich mache euch schnell Tee", flötete meine Mutter und war immer noch ganz ergriffen. Als sie durch die Tür verschwunden war, wich ich noch mehr vor Maxime zurück. „Lia, ich kann es erklären", fing sie sofort an, doch ich hob die Hand. „Wie konntest du hier her kommen? Ich will dich nicht sehen", sagte ich und sofort schossen mir wieder Tränen in die Augen. „Ich wollte es dir sagen, ich schwöre es. Ich war mir nicht sicher, Rosie hat es mir erst letzte Woche bestätigt", fuhr sie fort und versuchte meinen Blick aufzufangen. Ich drehte mich von ihr weg und ballte meine Fäuste: „Ich will deine Entschuldigungen nicht hören. Geh einfach zurück in deine perfekte, reiche Welt, in der du lange genug ohne mich klar gekommen bist." Sie seufzte und griff nach meiner Hand: „Das stimmt nicht." Ich entriss meine Hand ihrem Griff und schaute auf in ihre Augen. Sofort durchschossen mich tausende Gefühle und ich erkannte in ihren Augen mindestens genauso viele. „Du hast mehr in mir gesehen als das, das weiß ich ganz genau. Du hast mir gezeigt, dass ich mehr sein kann. Du bist der einzige Mensch, der mich wirklich kennt, das warst du immer." Ihre Stimme klang mittlerweile verzweifelter und in ihrem Blick sah ich den Schmerz, den ich selber fühlte. Ich schüttelte den Kopf: „Ich kenne dich nicht und ich will dich auch nicht mehr kennen. Bitte geh einfach." Ich sah genau, wie in ihren Augen bei meinen Worten etwas zerbrach. Kurz sah sie völlig ratlos aus, doch dann übernahm wohl wieder Vanessa King das Steuer, denn sie richtete sich auf. Sie schluckte und ihr Blick wurde so kühl, wie er sonst immer war. Sie kramte eine kleine Schachtel aus der Manteltasche und legte sie auf den Pfeiler vor uns. „Es tut mir leid", meinte sie monoton und ging dann tatsächlich zügig zum Wagen.

Innerhalb von Sekunden war sie verschwunden und ich stand verweint vor unserem Haus in der Kälte, einen Tag vor Weihnachten.

Show me your dark linesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt