Horatio im Scriptorium
Der Wind pfiff um die Mauern und kroch durch jede Ritze. Horatio hatte sich nach dem Essen in die Bibliothek zurückgezogen. Er wollte in seiner freien Zeit mit der Abschrift der Schriftrolle fortfahren. Auf dem Pult lag ein Pergament, welches schon zur Hälfte beschrieben war. Das Buch, ein Auftrag von einem wohlwollenden Spender für das Kloster, musste bis zum Jahresende fertig kopiert sein. Heute fehlte ihm die Konzentration daran weiter zu arbeiten.
Seine Gedanken schweiften zu Manfried, der seit vier Tagen im Hospital lag und sich von seinem Unfall erholte. Die frühmorgendlichen Besuche bei ihm hatten in Horatio eine Sehnsucht geweckt, welche er schon lange verloren wähnte. Die großen Augen in dem ausgezehrten Gesicht des Jungen berührten etwas tief in seinem Innersten. Seine Gedanken schweiften zurück an den Morgen vor den Klostermauern, als Manfried leise in Latein den Psalm gesprochen hatte. Eine wilde Entschlossenheit, sich dem Leben mit allen Herausforderungen zu stellen, gepaart mit der Sehnsucht nach Verständnis und Ebenbürtigkeit hatten in seinem Mienenspiel aufgeleuchtet. Bewegt von der Angst, die in seiner Stimme lag, zu scheitern, hatten Horatio den letzten Funken zugesandt. Das jüngste Mitglied im Konvent erinnerte ihn an seine ersten schmerzlichen Tage im Kloster Reichenau. Die Narben auf seinem eigenen Rücken erzählten dieselbe Geschichte, da er sich als Novize den Regeln des heiligen Benedikt oft entzogen hatte. Allein die adlige Herkunft war keine Garantie für Intelligenz und Gehorsam.Die ähnlichen Spuren auf Manfrieds Kreuz, verdeutlichten Horatio, dass ohne den Schutz der Kirche und deren Mauern die Menschen in der Lage waren Kinder zu verprügeln. Trotzdem fraß die Neugier sich in seine Gedanken, wie Manfried sich im Kloster behauptete. Hermanius war sehr deutlich gewesen, als er den Jungen für unwürdig hielt, in die Reihen der Mönche aufgenommen zu werden. Auch wenn seine Intuition ihm etwas anderes suggerierte hoffte er für den Jungen, dass er die Kraft besaß, sich den Widrigkeiten zu stellen.
Ein Schauer lief über seinen Rücken, als sich die Bilder der Vergangenheit vor sein inneres Auge drängten. Verzweifelt schüttelte Horatio den Kopf, um diese quälenden Erinnerungen zu verdrängen. Was wäre aus ihm geworden, wenn er den Weg, welcher sein Vater für ihn bestimmt hatte, befolgt hätte...
Die Lernfähigkeit der Novizen brachte Bruder Siegbert hart an seine Grenzen.
„Horatio? Wo sind deine Gedanken?", flüsterte Hermanius, der hinter ihm stand. Der große Tintenfleck auf dem Pergament holte ihn in die Realität zurück. Einen Fluch unterdrückend griff er nach dem Bimsstein und entfernte die Sauerei. Im Anschluss glättete er die Stelle mit Kreide und schaute betroffen Hermanius an. Seine buschigen hochgezogenen Brauen erinnerten Horatio an die unbeantwortete Frage.„Äh...", räusperte er sich und suchte nach den richtigen Worten.
„Ich bin dabei die Abschrift für unseren wohlwollenden Spender zu vollenden", wich er der Frage des Abtes aus.
„Wenn du so weiterarbeitest, wirst du nicht rechtzeitig fertig", rügte ihn Hermanius.
„Ich habe dich beobachtet und weiß, dass du jeden morgen den Jungen im Hospital besuchst... Ich denke eher du warst in Gedanken bei... wie hieß er noch mal?"
„Ähm... Ja... Sein Name ist Manfried", gab Horatio ertappt zu.Hermanius stand inzwischen am Fenster und beobachtete die Bäume, die sich im Wind bogen. Seine Hände vor dem Bauch gefaltet wartete, drehte er sich zu ihm um und zog sprachlos die Augenbrauen in die Höhe.
Horatio erhob sich von seinem Stuhl und stellte sich neben den Abt. Sein Blick wanderte über den Klosterhof, auf dem die Blätter von den Bäumen eine dicke Schicht auf dem Boden hinterließen.„Wie alt schätzt du den Jungen?" Die Frage kam über seine Lippen, ehe sich Horatio dessen bewusst war.
„Hmm... Ich würde auf fünf oder sechs Jahre tippen. Da er sehr klein ist, könnte ich auch falsch liegen", antwortete ihm Hermanius.
Horatio kniff die Augen zusammen und holte tief Luft. Manfrieds Geist schien weiter entwickelt zu sein, als sein Körper, überlegte er angestrengt. Die Gegenwart von seinem Abt behagte ihm nicht. Er hatte den Verdacht, dass dieser versuchte seine Vergangenheit auszuspionieren, da ihm die exponierte Stellung zum Erzbischof von Mainz nicht gefiel. Das Hatto ihn mit einem versiegelten Schreiben nach Disibodenberg geschickt hatte, weckte das Misstrauen des Mönches. Er tauchte ständig neben ihm auf, um ihn auszufragen.
„Kannst du dich an dein Leben vor dem Kloster noch erinnern? Wie waren deine Eltern?", versuchte Horatio die Situation für sich zu nutzen.
„Oh..." Hermanius senkte seinen Kopf und lächelte verhalten, über sein Ablenkungsmanöver.
„Ich weiß noch, daß meine Mutter immer nach Erde roch, von der Arbeit auf dem Feld. Sie hatte ein sonniges Gemüt und viele kleine Falten um ihre Augen. Mein Bruder war ein Jahr älter und meine Schwester ist gleich nach der Geburt gestorben... Mit ihr verschwand leider auch das Lachen in unserer Familie." Die letzten Worte kamen nur noch als Flüstern über seine Lippen. Er rieb sich mit beiden Händen die Augen und starrte wieder nach draußen.„Mein Vater war der Meinung, dass es das Beste für seine Familie, ich denke eher für seinen Ruf sei, seinen Fehltritt dem Kloster zu übergeben und damit für seine Sünden genüge getan hatte."
Horatio sah das Gesicht seines Vaters voller Verachtung vor seinem inneren Auge, als er ihn nach seinem Ungehorsam dem Erzbischof übergab. Er holte tief Luft und sprach mit sanfter Stimme weiter.
„Meine Mutter starb bei meiner Geburt und dafür lastet die Schuld schwer auf meinen Schultern. Ich frage mich oft ob es Gottes Strafe war, die ihr das Leben nahm. Meine Stiefmutter gebar ihm keinen Erben und mir wurde eine hervorragende Erziehung gewährt. Nachdem ich fast zwölf war, geschah das Wunder und mein Stiefbruder erblickte das Licht der Welt. Der Familien Zuwachs überzeugte meinen Vater, dass er genug Buße bezahlt hatte und übergab mich als letzte gute Tat dem Kloster Reichenau", verkürzte er seine Lebensgeschichte, um die eigentlichen Informationen, die er nicht preisgeben wollte.
„Eigentlich war ich gekommen, um zu sehen wie weit du vorankommst mit dem Kopieren der heiligen Schrift. Lass uns beten gehen", sagte Hermanius enttäuscht, wieder nichts erfahren zu haben.
Horatio schaute über seine Schulter auf sein Pult. „Geh schon vor. Ich komme gleich nach."Eine Woche später hatte es Horatio geschafft, die Heilige Schrift für den herrschaftlichen Lehnsherren war vollendet und er bereitete sich darauf vor, dieses zu überbringen. Hermanius sah sich das Werk mit wohlwollendem Blick an.
„Du hast wirklich eine hervorragende Arbeit geleistet. Ich werde noch ein Begleitschreiben verfassen, der unseren Dank für unseren Gönner zum Ausdruck bringt. Wann willst du aufbrechen?"
„Morgen früh", antwortete Horatio und sah zufrieden auf die Bibel.
Am späten Nachmittag besuchte er noch einmal Manfried. Der Junge hatte etwas Hoffnung verdient, die ihm das Zusammenleben mit den Mönchen erleichtern würde.
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Der Wechselbalg im Mönchsgewand
Historical FictionManfried, der als Krüppel zur Welt gekommen ist, wird von den Menschen gemieden. Der Aberglaube des einfachen Volkes sieht in ihm das böse, vom Teufel gezeichnete Wesen, das in ihrer Welt keine Berechtigung auf ein Dasein hat. Um zu überleben, such...