894 vor den Klostermauern
„Stimmt es, dass nachts deine Augen wie Feuerbälle leuchten?", sprach der fremde Junge Manfried an. Gewohnt, solche Fragen gestellt zu bekommen, starrte er ihn an. Die Einfältigkeit der Menschen klebte an seinem Körper, wie frischer Lehm, der ihn wie ein Panzer fest umklammerte und ständig an seine Außenseiterrolle erinnerte.
„Und?", fragte Manfried und lehnte sich mit verschränkten Armen nach hinten gegen den Stamm. Ein eisiger Wind streifte seinen Körper und die Kälte kroch tiefer in ihn hinein. Die Herbststürme kündigten den Winter an. Blätter tanzten durch die Luft und bedeckten den Waldboden. Auf der Spitze des Berges, auf dem das Kloster der Benediktiner stand, war er den Naturgewalten stärker ausgesetzt, als im nahegelegenen Tal, wo sich die Nahe durch die Landschaft schlängelte.
„I... ich bin A... Albero, die Jungen da drüben haben mich geschickt", hörte er seine Worte. Dabei senkte dieser beschämt den Blick und trat von einem Fuß auf den anderen.
Ein kurzer Seitenblick zur Gruppe bestätigte Manfried seine Aussage. Schweigend beobachteten beide die Szene aus der Entfernung, wie sie mit den Fingern auf ihn zeigten.
Sie alle lauerten vor dem Kloster und strebten danach, von den Mönchen aufgenommen werden. Genauso wie er, den Platz in der Gesellschaft verloren, suchten sie nach einem Weg, der ein besseres Leben versprach.
Sein Feuermal auf der linken Gesichtshälfte, welches von seinem Ohr über die Wange bis zum Mundwinkel verlief, hatte ihn von Geburt an zum Außenseiter gemacht. Und als wenn das nicht Strafe genug war, hatte er verkrüppelte Füße, sodass er durch sein Humpeln in der Gruppe herausstach. Niemand gab sich die Mühe, ihn kennenlernen zu wollen und seine Mutter hatte sich seiner mit den Begründung, Ich hasse dich, du Ausgeburt der Hölle, entledigt.
Von einem Mönch, der auf dem Marktplatz eines Dorfes eine Predigt hielt, hörte er die Worte, dass Gott alle Menschen liebt. Seitdem war er auf der Suche nach dem Schöpfer. Im Kloster hoffte er, würde er ihn sehen und ihm sich anvertrauen.
Hinter den hohen Mauern lag jetzt seine Hoffnung, doch die Mönche hatten auch ihm den Zugang verwehrt. Abseits der anderen Jungen saß er an einem Baum gelehnt und bettelte um Einlass. Mit den Fingern rechnete er die Tage seines Wartens. Den Mittelfinger seiner linken Hand zählte er zum zweiten Mal und fragte sich, wie lange er diese Lage noch aushalten musste. Mit jedem neuen Tagesanbruch wurde es kühler und ungemütlicher auf dem Berg. Die kalte Jahreszeit kündigte sich energisch an und hinderte Manfried am Schlafen. Sein Umhang, der von vielen Löchern zerfressen war, gab ihn kein Schutz vor der Kälte, sodass er nur auf den Sonnenaufgang wartete.
Endlich verfärbte sich der Himmel und deutete den neuen Tag an. An der Außenseite der Mauer ins Dunkel gehüllt spendeten die Zweige der Bäume mehr Schatten als Licht. Der Moment, indem sich das Tor öffnen würde, rückte näher. Manfried streckte seine steifen Glieder, erhob sich und humpelte zum Eingang. Seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen stellte er sich abseits von den anderen Bettlern und lauschte auf die Geräusche, welche hinter den Mauern den Mönch ankündigten. Die Stille wurde erdrückend. Nur der Nebel vor den Mündern, zeigte das Leben vor dem Kloster. Von innen näherten sich Schritte dem Tor. Als der schwere Riegel auf dem Metall quietschte, kehrte Bewegung in die Gruppe.
Das Tor öffnete sich und für einen kurzen Moment erhaschte Manfried einen schemenhaften Blick auf die verborgene Welt, die seine Hoffnungen schürten. Der Mann in schwarzem Umhang versperrte die Sicht und füllte den Rahmen vollständig aus. Seine tiefe Stimme durchdrang die Dunkelheit.
„Gott segne euch und diesen Tag.", begrüßte sie der Mönch. „Wir haben nur noch Platz für zwei, die wir in unseren Reihen aufnehmen können."
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Der Wechselbalg im Mönchsgewand
Historical FictionManfried, der als Krüppel zur Welt gekommen ist, wird von den Menschen gemieden. Der Aberglaube des einfachen Volkes sieht in ihm das böse, vom Teufel gezeichnete Wesen, das in ihrer Welt keine Berechtigung auf ein Dasein hat. Um zu überleben, such...