Prolog

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Der Nachtwind brachte eine Kälte mit sich, die dem Tod glich. Sie kroch in jeden Winkel des Schlosses. Sie fraß sich durch die Steinwände, fand Lücken und Ritzen, durch die sich ihren Weg bahnte.

Es war dunkel, so dunkel, dass man die Schönheit des Schlosses nicht sehen konnte. Nur Sterne und Mond spendeten Licht. All das war weit weg.

Und doch konnte es töten.

Nur eine einzige Gestalt stand auf der höchsten Plattform des Schlosses. Ihr Atem war wegen der kalten Luft sichtbar geworden. Er ging flach.

Sie wusste, dass es bald vorbei war. Der Mond war ihr Tod.

Ein stechender Schmerz machte sich in ihrem Herzen bemerkbar. Der Körper der Gestalt begann zu beben, sodass sie sich auf die steinerne Brüstung stützen musste.

Er war da. Der Tod hatte sie fest in der Hand.

Die Gestalt hob den Blick und zwang sich, diesen letzten Moment nicht zu vergeuden. Ein letztes Mal wollte sie dieses Schloss sehen, ein letztes Mal die Kälte spüren, ein letztes Mal das Meer riechen können.

Langsam ließ sie ihre Hand in die Tasche sinken und zog ein Foto daraus hervor. Mit ihren Fingern, die immer noch zitterten, fuhr sie zärtlich über das Stück Papier.

Abgebildet war ihre Familie. Ihre Töchter und Söhne. Sie alle lächelten glücklich in die Kamera. Ihr Mann hatte einen Arm um sie gelegt.
Tränen stiegen ihr in die Augen.

Nichts wünschte sie sich mehr als noch etwas mehr Zeit mit ihnen. Sie würde viel zu früh gehen. Sie würde nicht dabei sein, um zu sehen, wie sie aufwuchsen.

Ein weiterer erbarmungsloser Schmerz ließ sie in sich zusammenfallen. Die Gestalt rutschte an der Brüstung entlang zu Boden. Das Foto segelte neben sie auf das glatte Kopfsteinpflaster.

Ein letztes Mal sah sie in die Gesichter ihrer Familie, bevor sie wieder zum Nachthimmel aufsah. Nichts würde sie mehr vermissen als diese Gesichter, und niemals würde sie sie vergessen.
Niemals.

Doch ihre Zeit war gekommen. Sie hatte versucht, diesen Tag zu umgehen, aber nichts konnte aufgehalten werden, das schon längst geschehen war.

Familie Cruthceo war zerbrochen. Und es gab nichts, dass sie jetzt noch tun konnte.

Langsam verlor sich die Gestalt im Wind. Die kalte Nachtluft trug ihren Staub hinauf aufs Meer, wo er in alle Richtungen verteilt wurde.

Er wehte immer weiter, immer ferner, bis nichts davon mehr übrig war.

Und doch gab es etwas, das blieb. Etwas, das hoffentlich niemals gefunden werden würde.

VenaturaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt