Kapitel 2

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»Ich bin ... überrascht«, gebe ich zu und lache nervös. »Aber es freut mich natürlich auch, Sie kennenzulernen, Ms. Williams!«

Sie grinst schief. »Ich lerne die neuen Praktikanten und Mitarbeiter gerne auf diese Art und Weise kennen. Oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie sich verstellen, wenn ich sie direkt willkommen heiße. Mit Lola gehen die meisten ganz anders um. So konnte ich zum Beispiel auch erfahren, wie sehr du dich mit B&G verbunden fühlst«, erklärt sie ihre kleine Scharade.

»Verstehe. Sie versuche, ein ehrliches Bild ihrer neuen Mitarbeiter zu bekommen«, erwidere ich und nicke verstehend. »Das ergibt Sinn. Ich hätte wirklich nicht damit gerechnet.«

Zufrieden lächelt sie. »Das habe ich gemerkt. Nun denn, wollen wir trotzdem zum Star Bucks gehen und einen Kaffee trinken? Dann können wir ganz entspannt über ihre neuen Aufgaben quatschen und lernen einander ein bisschen besser kennen.«

»Klingt wunderbar. Wie ich gehört habe, ist die Chefin ohne ihren Kaffee eher unzufrieden.«

Ms. Williams grinst und nickt. »Das hast du dir gut gemerkt. Ich lade dich ein«, sagt sie und hakt sich dann bei mir unter.

Noch immer etwas überfordert mit dieser Aktion, laufe ich neben ihr her. »Also kommt Lola immer dann zum Einsatz, wenn Sie jemand Neues einstellen?«

»Lola bleibt immer gleich. Viele würden behaupten, dass es Zeitverschwendung ist, sich für eine Stunde mit Henna Farbe bemalen zu lassen, aber ich sehe es als sehr wertvoll an, den Menschen kennenzulernen, wie er wirklich ist. Außerdem kann ich mich so auf eine ganz andere Art und Weise kleiden, wie ich es sonst tun würde. Ich mag es, mich in andere Rollen hineinzuversetzen.«

»Ich versuche noch immer herauszufinden, welchen Platz ich in dieser Welt einnehme. Deshalb mag ich es vermutlich nicht, mich zu verkleiden«, antworte ich.

»Und du glaubst, dass New York City der Ort ist, an dem du dich selbst verwirklichen kannst?«

»Ich hoffe es. Ich träume von einem Umzug in diese Stadt, seitdem ich das erste Mal eine Ausgabe von B&G in den Händen halten durfte. Damals war ich zu jung, um sie zu lesen. Zu meinem 14. Geburtstag habe ich eine Ausgabe geschenkt bekommen. Zu dieser Zeit habe ich ein Interview über Ihre Mutter gelesen«, erkläre ich. »Mich hat ihre Sichtweise sehr beeindruckt und ich hatte direkt einen Narren an ihr und dem Magazin gefressen. Dann haben Sie das Zepter übernommen. Je älter ich wurde, desto besser hat mir gefallen, was geschrieben wurde. Ich habe die Texte und Artikel endlich richtig verstehen können und auch all die versteckten Aussagen dahinter verstanden. Mit den Jahren hat sich der Traum gefestigt, ein Studium am New Yorker Fashion Institute zu beginnen. Deshalb bin ich hier. Um den Antrag auf ein Stipendium bewilligt zu bekommen«, erkläre ich und merke, dass ich dabei bin, mich in einem Redeschwall zu verlieren. »Aber sicherlich haben Sie das schon in meinem Motivationsschreiben gelesen.«

Sie lächelt mich von der Seite an. »Habe ich. Dennoch dürfen sie mir gerne mehr davon erzählen, weshalb sie einen Platz am FIT wollen«, erwidert sie und klingt wahrhaftig interessiert.

»Meine Eltern sind Farmer. Daheim in Vermont haben sie einige Hektar Land, auf denen sie Apfelplantagen mit vollem Herzen pflegen und hegen. Auch mit tierischer Landwirtschaft verdienen sie ihren Lebensunterhalt. Doch wie Sie sich vielleicht vorstellen können, ist das nicht für jedermann etwas. Obwohl es für mich keinen schöneren Ort gibt, als die Farm meiner Eltern, gehöre ich dort nicht hin. Ich mag die Tiere, doch die Arbeit ist nichts für mich. Ich bin zu kreativ, um für immer dortzubleiben. Meine Großmutter brachte mir schon früh das Nähen bei, weshalb ich meistens bei ihr geblieben bin, wenn meine Eltern am Arbeiten waren. Die erste Nähmaschine, die ich damals von ihr geschenkt bekam, steht noch heute in meiner Wohnung. Mit ihr nähe ich alles, was ich an Klamotten besitze, selbst. Ich glaube, es ist eine Ewigkeit her, dass ich zuletzt wirklich shoppen war«, erkläre ich.

TendernessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt