Kapitel 1

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»Sie sind hier, um ihre Produktivität unter Beweis zu stellen. Wenn Sie nicht hart genug arbeiten, fliegen Sie schneller raus, als sie FIT überhaupt buchstabieren können«, erklärt mir die scharfzüngige Dame im Designerkostüm. Ms. Coopers winzige Taille wird in dieser Kluft hervorgehoben und ihre schnellen Schritte bereiten mir Mühe, hinterherzukommen. Im Gegensatz zu ihrer ausgeprägten Fähigkeit, in High Heels einen Marathon zu laufen, bin ich froh, einen Fuß vor den anderen setzen zu können.

»Ich versichere ihnen, dass ich Sie nicht enttäuschen werde«, antworte ich selbstbewusst. Dass ich nur eine Chance habe, meinen Traum zu verwirklichen, weiß ich. Deswegen bin ich mir bewusst, dass ich mir den Hintern abarbeiten werde, um am Ende dieses Jahres eine Empfehlung in den Händen zu halten, die mir hoffentlich die letzten Türen öffnet, die mir den Weg versperrt.

Da meine Eltern mit ihrer Farm im Vermont nicht einmal ansatzweise das Schulgeld der FIT stemmen könnten, lautete mein Ziel schon immer, ein Stipendium zu ergattern. Mit dem Praktikum bei B&G ergeben sich Möglichkeiten für mich, an die ich ohne etwaige Referenzen nur zu träumen wage. Ohne bekannte Namen und Vitamin B ist man in der Branche ein Nichts. Das ist der Grund, weshalb alle glauben, dass die Tochter eines Farmers es zu nichts bringen würde.

Nicht in New York und schon gar nicht bei Bold & Grace.

B&G gehört mit der Vogue zu den erfolgreichsten Frauenmagazinen der Welt. Die Leserschaft erstreckt sich über den ganzen Planeten. Ich kann nachvollziehen, dass das Magazin ihnen gefällt, wo ich ebenfalls zu ihrer treuen Leserschaft zähle, und freue mich umso mehr, dass ich die Möglichkeit bekommen habe, ausgerechnet hier ein Praktikum zu absolvieren. Meine Chancen waren gleich null und dennoch fand ich eines Tages diese E-Mail in meinem Posteingang. Mein Vater meint noch immer felsenfest, dass er mich draußen auf der Apfelplantage hat schreien hören. Dass das unmöglich ist, weil unsere Felder kilometerweit von unserem Haus entfernt sind, behalte ich lieber für mich. Ich weiß, dass er stolz auf mich ist. Gleichzeitig sind meine Eltern unheimlich traurig, dass ich nicht nur in einen anderen Bundesstaat gezogen bin, sondern auch gleich verkündet habe, dass ich vorerst nicht nach Hause zurückkehre.

Mein Traum ist zum Greifen nahe. Auch, wenn es naiv sein mag, dass ich mich auf diese eine Chance stürze, als wären es die letzten hübschen Sandalen im Sommerschlussverkauf, bereue ich nicht, alle Zelte in meiner Heimat abgebaut zu haben.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Und ich werde alles dafür tun, um einen Sieg zu verzeichnen.

»Mich müssen Sie nicht von sich überzeugen, Schätzchen. Sie werden für Stacy Williams höchstpersönlich arbeiten. Unsere Chefin ist gnadenlos und gibt keine zweiten Chancen. Dennoch schätzt sie es, wenn man gute Arbeit leistet. Was für Sie ja dann offensichtlich kein Problem darstellen sollte, richtig?«

Ich schlucke, als die Dame im Kostüm mir dies mitteilt. »Stacy Williams übernimmt die Anleitung von Praktikanten? Ist sie nicht viel zu beschäftigt dafür?« Die Hoffnung, dass ich mich bloß verhört habe, verläuft sich im Nichts, als ich das höhnische Grinsen auf ihren Lippen sehe. Mir muss die Angst förmlich ins Gesicht geschrieben stehen. Spätestens als ich einen Ausdruck in ihren Augen aufblitzen sehe, welcher Spott sehr ähnlich ist, weiß ich, dass ich richtig verstanden habe.

»Das können Sie sie gerne selbst fragen, Ms. Brady. Ich erledige nur das, was mir aufgetragen wurde«, erwidert sie und bleibt abrupt stehen. Sie dreht sich zu mir. Das falsche Lächeln in ihrem Gesicht trifft mich nicht. Eher die Art und Weise wie sie auf mich hinabsieht, als sei ich nicht mehr wie der Dreck auf dem Marmorboden. Doch daran werde ich mich gewöhnen müssen. Egal, wo man arbeitet, es gibt immer Menschen, die einem das Leben grundlos zur Hölle machen. Mit Förderung und Herausforderung hat das dann zwar nichts mehr zutun, aber ich bin es gewohnt.

TendernessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt