Vor einer Weile hatte Levi etwas entdeckt. Nicht etwas, jemanden. Es handelte sich um einen hochgewachsenen Mann mit goldglänzenden Haaren, die aussahen, als ob man sie bis auf jede Unebenheit glattgeschliffen hätte. Immerzu schien er Levi zu beobachten, von einem der alten Häuser aus, wo bodentiefe Fenster im Erdgeschoss das Licht brachen. Dort wartete er immer darauf, dass Levi über den Marktplatz lief.
Immer um zehn nach acht, wenn Levi sich auf den Weg zur Fabrik machte, und immer um zehn vor sechs, wenn er an diesem zerrütteten Laden vorbeimarschierte, um wieder nach Hause zu kommen, spürte er diesen starren Blick. Viel zu auffällig und penetrant, als dass man ihn nicht bemerken würde, er brannte geradezu.
Waren das vielleicht diese Zivilpolizisten? Die sich verkleideten, um Schieber zu enttarnen und Kleinkriminelle zu bespitzeln? Dabei hatte sich Levi in letzter Zeit gar nicht mehr strafbar gemacht. Trotzdem war er immer da und saß ihm stechend im Nacken, dieser aufmerksame Blick.
Nur ein einziges Mal hatte Levi es gewagt, aufzusehen. Zuvor hatte er sein Aussehen nur aus dem Augenwinkel erahnen können, jetzt wusste er mehr. In diesem Moment hatte er tief verwurzelte Entschlossenheit erahnen können, und er begann, den Fremden bis zu einem gewissen Grad als Bedrohung anzuerkennen. Wie ein roter Punkt auf seinem Radar. Dieser Mann hatte ein Ziel, und er würde nicht so schnell aufhören, Levi in die gottverdammte Seele zu starren.
Nachdem er das erste Mal Augenkontakt zu seinem Späher aufgenommen hatte, legte er fest, dass er handeln musste. Vielleicht war er tatsächlich einfach ein komischer, gelangweilter Kerl, aber dafür wirkte das alles hier zu gestellt.
Sein potentieller Feind hielt sich immer am selben Ort auf, es musste früher mal ein Lokal gewesen sein. Durch die schlampig aufgehängten Planen konnte man hölzerne Tische und einen Tresen erahnen, die zusammen an die Fassade eines Restaurants oder einer Bar erinnerten. Manchmal arbeitete der Fremde dort, schrieb ab und zu etwas. All das, fasste Levi zusammen, war verdächtig.
Am nächsten Tag passierte Levi den offenbar geschlossenen Laden nicht. Stattdessen wartete er einige Minuten. Sein Beobachter schien nämlich genau zu wissen, wann Levi zum Marktplatz musste, eine Verspätung würde ihn irritieren. Entgegen seinen Erwartungen würde Levi lautlos und kaum merklich durch die Tür schlüpfen, ein Vorteil seines gedrungenen Körpers.
Durch eine gelbe Scheibe, die in der Mitte der Holztür eingelassen war, erkannte er den Spanner. Merkwürdigerweise saß er auf dem Boden und schien etwas zusammenzubauen, ein Regal vielleicht, zumindest bis er den Schraubenzieher in seiner Hand auf den Tisch neben sich legte. Genau, wie Levi es sich dachte, überwachte er konzentriert die Straße, statt auf das Innenleben des Lokals zu achten.
Sachte presste Levi sich gegen die Tür, die glücklicherweise unter seinem Druck nachgab und leise ächzte. Bevor sie wieder zufallen konnte, hastete Levi flink zu besagtem Tisch und griff nach dem spitzen Werkzeug. Angesichts seiner schnellen Schritte musste der Kerl ihn gehört haben, weshalb er alarmiert den Kopf herumriss und zu Levi aufschaute ─ zu spät. Levi hatte sich bereits hinter ihm aufgebaut und trieb ihm den Schraubenzieher an den Hals.
»Warum beobachtest du mich?«, fragte er streng, weshalb der Blondschopf ihn überfordert anblinzelte.
»Oh, hallo«, hieß er den blinden Passagier willkommen. Er zog den Kopf ein, um das kühle Metall so weit wie möglich von seiner lebenswichtigen Aorta zu entfernen.
Levi folgte ihm mit bewusst eindringlichem Blick und drückte das Instrument an seine Kehle. Offensichtlich war er nicht hier, um Konversation zu machen. »Das geht schon seit Wochen so, oder irre ich mich? Wartest du auf etwas Bestimmtes?«
Verwundert über die gefährliche Situation überlegte er einen Moment, schluckte. »Nun ja, du wirktest interessant«, erwiderte er überraschend ruhig. »Ich habe eine Schwäche für interessante Charaktere.«
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Heimvorteil
FanficBRD, Sechzigerjahre: Obwohl Levi es aus Dresden in den Westen geschafft hat, ist er unglaublich ernüchtert, wie wenig ihm auch dort das Leben bietet. Als ihm ein mysteriöser Mann ein unschlagbares Angebot macht, geht er dementsprechend darauf ein un...