Kapitel 6: Trautes Heim

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Unter grauem Himmel zog die Landschaft vorbei. Kahle Felder, Weinberge, Wiesen und Alleen, ganze Ortschaften und Städte prägten sich in sein Gedächtnis wie verschwommene Gemälde. Levi war lange nicht mehr Auto gefahren. Er hatte ja nicht einmal einen Führerschein. Wie auch?

Im Osten war es unfassbar schwer, an auch nur eines dieser Dinge ranzukommen. Wenn man besonders systemtreu war, konnte man dafür Anträge stellen, aber es dauerte mehrere Jahre, bis sie bearbeitet wurden. In diesem Land mangelte es an allem, es gab nichts, nichts und wieder nichts.

Lustlos stützte er das Kinn auf seine Hand. Dieses Unbehagen, das ihn übermannte, war das Heimweh? Ehrlich gesagt vermisste Levi nichts. Alles, was er aus seinem früheren Leben memorisierte, war Hunger, Schmerz und Angst. Ihm wurde ganz kalt ums Herz.

Abwesend sah er zu Erwin herüber. Seine blonden Haare sahen wie immer aus, ein wenig zur Seite gekämmt und fest geklebt, damit auch jeder wusste, dass er unverheiratet war. Ha-ha. Das war ein guter Witz, den sollte Levi sich merken, bis sich die Gelegenheit ergab, ihn damit zu beleidigen.

Sein Blick war konzentriert und entschlossen, während der hässliche Käfer unter seiner Kontrolle über die Straße krabbelte. Erwin fuhr genauso Auto, wie er alles tat: sehr gewissenhaft und durchdacht. Ein wenig begann Levi, sich in Sicherheit zu wiegen. Es war sogar schwer, das nicht zu tun, wenn Erwin so fokussiert das Verkehrsgeschehen beobachtete.

»Bist du aufgeregt?«, fragte er und versuchte, es gelassen klingen zu lassen, jedoch konnte Levi die geballte Spannung spüren, die auf seine Stimme drückte.

Aufregung war kein guter Ausdruck für den schmerzenden Knoten in seinem Magen. »So was in der Art.«

Aus der Entfernung konnte Levi bereits Stacheldrahtzäune sehen, die düster gegen den fahlen Himmel standen, während schäbig aufrecht stehende Funktionäre darum patrouillierten. Triste Betontürme ragten hinter dem Kontrollstreifen hervor, einige PKWs rollten bereits sehr vorsichtig darauf zu. Levi wurde ganz unwohl, als er die zinngrauen Uniformen sah.

Ein paar Minuten später kam der Wagen vor einer Schranke zum Stehen, die von einem ziemlich ernsten, groben Kerl bewacht wurde, breit wie ein Löwe, aberwitzig muskulös. Für diese Arbeit musste man eigentlich nicht stark sein ─ die Funktionäre bekamen sowieso diese Knarren, mit denen sie alles abknallen konnten, was sich bewegte. Es waren keine vollautomatischen, wohlgemerkt, nein, sondern diese absurd kleinen Pistolen und Revolver, die harmlos wie Spielzeuge wirkten.

Levi hatte so eine auch mal gehalten, der erste Eindruck täuschte. Entgegen seiner Erwartung war sie sehr schwer gewesen, man spürte das Eisen richtig, einerseits kalt und leblos, andererseits aber auch überwältigend und mächtig, als schlummere eine übernatürliche Kraft darin. Wenn man so eine in die Finger bekam, wusste man einfach, dass das Ding töten konnte.

»Guten Tag«, versuchte Erwin sich an einer Begrüßung, nachdem er das Fenster heruntergekurbelt hatte.

Der Griesgram brummte nur: »Ihr Berechtigungsschein und Ihre Reisepässe.«

»Ich verstehe, Sie machen kurzen Prozess.« Daraufhin zog er ein Dokument aus der Mittelkonsole, vermutlich einen Antrag, den er gestellt hatte. Es war gestempelt und unterschrieben, in der Mitte prangte das Emblem der Deutschen Demokratischen Republik.

Danach holte er noch zwei kleine Heftchen heraus. Das von Levi war vergilbt, voller Knicke und Risse, auch das Bild schrecklich. Erwin hatte letztens versucht, ihn aufzumuntern: Angeblich sähe Levi doch gar nicht so anders aus als heute, aber damit hatte der Idiot ihn nur weiter desillusioniert. Levi wollte nicht glauben, dass er immer noch so finster dreinblickte. Wie ein Verbrecher.

Ein kühles Lüftchen wehte durch das offene Fenster herein, während Erwin dem Funktionär die Dokumente reichte. Konzentriert studierte er den Berechtigungsschein, dann gab er Erwin die Papiere zurück und nickte. »Sie werden jetzt registriert. Fahren Sie vor und befolgen Sie die Anweisungen des Grenzpersonals.«

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