Kapitel 14: Stacheldraht

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Heute war einer dieser Tage, an denen der Winter zuließ, dass das Frühjahr sich zumindest mal ankündigte. Schneeglöckchen reckten ihre weißen Blüten in die Höhe, um nach den fahlen, wenn auch mageren Sonnenstrahlen zu greifen, die sich hin und wieder zwischen dichte Wolkenschwaden kämpften. Die Luft war beißend kalt, aber es wehte zumindest kein Wind.

Levi schaute gelangweilt aus dem Fenster und hatte die Schläfe gegen seine Faust gestemmt, während Erwins grässlicher Käfer über die Straßen rollte. Die letzte Nacht hatte er wieder nicht gut geschlafen (auf einer schmerzenden Wange ließ es sich schlecht liegen).

Abgesehen davon könnte man jedoch sagen, dass der heutige zu Levis besseren Tagen zählte. Er war von seinem gestrigen Hoch noch nicht ganz heruntergekommen, außerdem hatte Zeke netterweise wenig Palaver gemacht und ihnen ohne weitere Zwischenfälle das Geld für die Ware überreicht, die schon viel zu lange nutzlos in Erwins Kofferraum gelegen hatte, seit sie ihm damals vom Gölzenleuchter überreicht worden war.

Bevor sie die Grenze passierten, suchte Erwin aufs Neue die notwendigen Dokumente in der Mittelkonsole zusammen, sodass er sie bereit hatte, als einer der Funktionäre danach fragte. Sobald der Beamte sich seinem Kollegen zuwandte, um die Daten mit denen auf seinem Register abzugleichen, kam Levi eine Idee.

»Meinst du, ich kann einem Stasi-Wichser die Waffe klauen, ohne dass er es merkt?«, warf er beinahe lautlos in den Raum, doch Erwin verstand jedes einzelne Wort. Er schaute kurz zu Levi herüber, um sicherzugehen, dass er sich nicht verhört hatte.

»Das traust du dich nicht.«

Adrenalin und der Drang nach einer Herausforderung brannte verschwörerisch in Levis Körper. »Wetten wir?«

Erwin zog die Stirn kraus, sagte aber nichts mehr. Stattdessen wandte er sich wieder den beiden Funktionären zu, die nach wie vor in den Dokumenten vertieft waren.

»Kein' Schiss? Denn ich bluffe nicht«, stichelte Levi und zog eine Augenbraue hoch. Da Erwin immer noch nicht reagierte, hakte er weiter nach. »Willst du mir nicht sagen, wie gefährlich das wäre? Dass ich das lieber nochmal überdenken sollte?«

Erwin stieß gedrückt den Atem aus, bevor er antwortete. »Ich hasse mich dafür, aber ein Teil von mir würde wirklich gerne sehen, wie du einem Stasi-Wichser die Waffe klaust.«

Verwundert starrte Levi ihn an. Ihm war nicht entgangen, dass Erwin sogar exakt seine Wortwahl kopiert hatte.

Erwin war ein rationaler Mensch. Jemand, der sein Handeln von Logik und Erfahrung leiten ließ ─ und doch war es das Risiko, gewissermaßen eine Form des Glücksspiels, das ihn fest in seiner Hand hielt. Ein Mann mit Verstand, der sich gerne Gefahren aussetzte, für die Spannung, für die Angst, etwas zu verlieren.

Levi biss sich auf die Wange und sah aus dem Fenster. »Mann, du bist eigentlich der Vernünftige von uns beiden.«

»Ich weiß«, gestand er fast schon schmerzverzerrt und ließ seine Stirn auf das Lenkrad sinken, »und ich will dir sagen, ›Tu's nicht‹, aber ich bin überzeugt, dass du es tatsächlich schaffen könntest. Und ... allein die Möglichkeit ...«

Eine ungekannte Nervosität kroch Levis Rücken herunter. Er wollte etwas sagen, vielleicht ein Schimpfwort und dazu einen der personalisierten Spitznamen, die er für Erwin parat hatte, aber ihm war nicht danach. Nein, hier war kein Raum für Späßchen.

Bevor er sich beschweren konnte, kehrten die Beamten zurück und forderten die beiden auf, auszusteigen. Es war dasselbe Prozedere, einer von ihnen durchsuchte den Wagen, der andere pinnte erst Erwin, dann Levi gegen die Wagenseite und tastete sie sehr sorgfältig ab. Levi linste dabei permanent zum Holster des Beamten und überlegte, wie er seine kleinen Finger am besten in die Nähe des Revolvers bringen könnte, ohne dass es dem Wichser auffiel.

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