Als sie an die Frau vom Reiss gedachten, fiel feiner Schnee. Solcher, der wie Staub zerfiel. Die Menschen schwiegen und schlossen die Augen, falteten die Hände und krümmten sich während des Marsches. Eine ältere Dame wischte sich sogar Tränen aus den Augen.
Auf den Straßen war genügend Platz, die Frau vom Reiss schien eine sehr geschätzte Person gewesen zu sein. Es war fast feierlich, wie ihr Sarg hinfort getragen wurde, vorne und hinten ihre ältesten Söhne.
Auch wenn die meisten Menschen sowieso zu Boden blickten, merkte Levi, dass sich niemand nach Erwin umwandte. Im Gegenteil, sie schienen seine Präsenz gar nicht erst wahrzunehmen. Wie ein Geist.
Die Wolken waren schon in den Westen weitergezogen, so wie sie sich in der Kirche fanden. Vorne suchte der Pastor beschwichtigende Worte, Levi verstand nicht sonderlich viel von dem, was er sagte. Seine Ansprache war eine Mischung aus Bibelzitaten und biographischen Hochleben. Die Frau vom Reiss hatte fünf Kinder auf die Welt gebracht, alle klug und fromm und pflichtbewusst. Gott wolle ihre Seele bei sich haben.
Der Pastor war ein alter, runzliger Mann, sein Gesicht hatte Ähnlichkeit mit einer Rosine. Während er redete, machte er sehr viele, große Gesten, als hätte jemand Fäden an seinen Gliedmaßen befestigt und würde sie hin und her schwenken.
Levi drehte den Kopf etwas zu Erwin, weil er wissen wollte, was er dachte. Seine Miene war konzentriert, auch wenn sie nicht unbedingt an den Lippen der Rosine hing. Eine ernste Anspannung zeichnete seine Züge, als hätte jemand sie mit Garn festgezurrt.
Normalerweise hätte Levi gefragt, ob er vielleicht Durchfall hatte und versuchte, es einzuhalten, aber ihn beschlich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
Erwin schien seinen Blick zu spüren und erwiderte ihn. Das flüchtige Lächeln, das er Levi schenkte, hatte etwas Verschwörerisches an sich.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Nur ein Psychopath könnte während einer Trauerrede grinsen. Kein Wunder, dass sie ihn alle in Ruhe ließen. Aber Levi würde lügen, wenn er meinte, ihn würde diese Dreistigkeit nicht auch ein wenig amüsieren. Er wandte sich wieder dem Pastor zu.
Später sprach auch der Reiss mit seiner schmierigen Stimme zu ihnen, dann auch die Söhne, Levi hörte mit halbem Ohr zu. Als die Menschen vor ihnen sich Reihe für Reihe erhoben und die Kirche verließen, sahen sie im Vorbeigehen Erwin gar nicht oder nur befremdet an. Dachte er wirklich, dass Levi das nicht bemerken würde?
Einige Minuten dauerte es sicherlich, aber auch sie beide konnten endlich von der Bank ablassen und es der kleinen Menschenmenge gleichtun. Sobald sie den Weg nach draußen fanden, packte Levi die Ungeduld und er fasste Erwins Unterarm. »Warum sehen die dich so an?«
Erwin lief stur geradeaus. »Wie?«
»Stell dich nicht dumm«, blaffte Levi. »Niemand hier grüßt dich oder redet mit dir. Du bist hier eindeutig nicht willkommen.«
Ein schweres Seufzen entwischte ihm. »Ich kenne die Menschen hier größtenteils nicht gut.«
»Aber sie scheinen dich zu kennen.«
Spätestens jetzt konnte Levi sich nicht mehr zurückziehen. Ursprünglich hatte er sich geschworen, dass er sich möglichst wenig in Erwins Leben einmischen würde, doch die Mysterien, die um ihn kreisten, machten es schwer sich nicht dafür zu interessieren. Es wäre viel leichter, wenn Erwin einfach ein ganz normaler Mann aus einer ganz normalen Familie wäre. Aber nein, das wäre ja viel zu einfach. Erwin und einfach, das gab es gar nicht.
»Du bist wirklich ein kluges Kerlchen, Levi«, stellte Erwin zu seinem Nachteil fest und formte die Lippen zu einer schmalen Linie. Was für eine billige Schmeichelei. Es war Levi peinlich, dass er sie glauben wollte.
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Heimvorteil
FanficBRD, Sechzigerjahre: Obwohl Levi es aus Dresden in den Westen geschafft hat, ist er unglaublich ernüchtert, wie wenig ihm auch dort das Leben bietet. Als ihm ein mysteriöser Mann ein unschlagbares Angebot macht, geht er dementsprechend darauf ein un...