4. Jäger der Seelen

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(Stray Kids)

Alles um uns herum war von Schnee bedeckt. Wirklich alles? Die Antwort auf diese Frage lautete nein. Dieser eine Baum, nur dieser eine Baum war verschont geblieben. So als ob seine Kraft immer noch an diesem Ort existierte. Jedoch wusste ich, dass dies Quatsch war. Er war schon vor langer Zeit gestorben. Trotzdem kehrte ich immer wieder hierhin zurück. Zu diesem Baum. Er war unser Zufluchtsort gewesen, wenn uns wieder alles über den Kopf gewachsen war. Und dafür gab es wahrlich mehr als genug Gründe. Schließlich gibt es immer noch, auch im 21. Jahrhundert, Menschen, die Homosexualität verachten. Das waren vermutlich dieselben Menschen, die ihn damals als Hexe beziehungsweise Zauberer verschrieen haben. Ich kann mich noch genau an sie erinnern. Sie wollten seine Seele. Um sie für immer zu vernichten. Dunkle Seelen blieben immer dunkel. Doch seine war gelb. Einfach nur rein gelb. Ohne irgendeinen Fleck. Sonnengelb, wie eine Sonnenblume in bester Pracht und Blüte. Normalerweise sind Seelen bunt. Meistens mit dem ein oder anderen dunklen Fleck. Deshalb war er mit seiner einfarbigen, reinen Seele etwas ganz Besonderes.
Und meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass seine Seele immer und immer wieder auf diese Welt zurückkehrt, sodass er wiedergeboren werden kann. Dafür muss ich ihn einfach nur bedingungslos lieben. Denn nur so kann er Menschen dazu bekehren, diese Welt zu einer besseren zu machen. Ohne ihn und seine Kraft wäre die Welt böse, verseucht und verlogen. Sonderlich schwer fällt mir das nicht, denn jeder der ihn kennt, weiß: Man muss ihn einfach gernhaben.

Ruhig steuerte ich durch die Schneemassen zu unserem Baum. An diesem Ort fühlte ich mich besser, so als ob ich nicht alleinig schuld daran wäre, dass er seit gut vier Jahren nicht auf diese Welt zurückgekehrt ist. Doch nicht einmal hier konnte ich meine Sorgen völlig loslassen. Ich war nun einmal schuld an seinem Tod und noch schlimmer, man konnte mir zusätzlich die Schuld dafür in die Schuhe schieben, dass er noch nicht wieder geboren wurde. Ich hatte es damals wirklich ziemlich verbockt.
Möglichst vorsichtig schob ich die kahlen Äste unseres Baumes zur Seite. Wie jedes Jahr kurz vor Weihnachten überließ ich meinen Buchladen einem guten Freund von mir für ein paar Stunden, sodass ich herkommen und den Baum schmücken konnte. Ich wusste, dass sich viele jüngere Kinder jedes Jahr an dem Baumschmuck erfreuten, wenn sie hierherkamen, um Schlitten zu fahren. Manchmal hingen sie sogar ihre Wunschzettel an den Baum, in der Hoffnung, dass das Christkind sie abholen und ihnen ihre Wünsche erfüllen würde.

Mit aller Ruhe, die ich aufbringen konnte, stellte ich den kleinen Pappkarton, den ich mitgebracht hatte, neben mir ab und genoss den kurzen Moment der Stille. Nicht einmal einen Vogel konnte man zwitschern hören. Kurz überlegte ich. Sollte ich dieses Jahr goldene Kugeln an die dünnen Zweige hängen? Oder doch lieber kleine weiße Paketchen? Nach Für- und Abwägen, beschloss ich, mattrote Kugeln, kleine Holzsternchen aus kleinen Zweigen und eine silbrige Lichterkette zwischen die Äste zu hängen. Dann hätten wir Abwechslung zum letzten Jahr. Da hatte ich goldene Stoffelche, mattblaue Kugeln und weiße Engel verwendet.
Leise summend begann ich die Kugeln aus dem Pappkarton zu kruschteln. Währenddessen spielte ein leichter Windhauch mit meinen Haaren und ich hatte das Gefühl, dass er mich in meiner Wahl bestätigen würde. „Tada!", präsentierte ich meinen Fund einer nicht anwesenden Person. Voller Tatendrang lief ich mehrmals um den Baum, hängte hier und da eine Kugel zwischen die Zweige und hing meinen Gedanken nach. Es war wie ein inoffizielles Ritual, das ich vollführte. Schon seit ich mich entsinnen kann, und das ist wahrlich keine kurze Zeit, vollführte ich diese Prozedur nach seinem Tod, während ich darauf wartete, ihn wieder in meine Arme schließen zu können.

Kaum hatte ich die Kugeln vollkommen am Baum platziert, wandte ich mich den Holzsternen zu. Früher, kurz nach den wahrlich schlimmen Zeiten, hatte ich sie mit meinen Freunden gebastelt. Eine kleine Erinnerung und doch so ein schöner Moment. Es war, als ob sie den Moment gerade vervollständigen würde. Ich wusste nicht einmal, ob meine Freunde von damals noch lebten. So ein schlechter Freund war ich. Wenn, dann waren sie alt, sehr alt. Ganz im Gegenteil zu mir. Ich blieb jung. Immer. Das war eine der Eigenschaften, die mich ausmachten. Körperlich sah ich immer noch aus wie etwas über 20, doch im Geiste war ich bestimmt schon an die 465 Jahre alt. Theoretisch könnte ich die Guten ja mal besuchen... Ob sie mich überhaupt sehen wollten? Erinnerten sie sich überhaupt noch an mich?
Mit dem letzten Stern, mit dem ich den Baum schmückte, versiegelte ich ein stummes Versprechen. Sobald ich ihn wiederhatte, würde ich sie alle wiedersehen.
Nur Minho habe ich nie aus den Augen verloren. Ihm war ich immer treu geblieben. Und er mir. Das rechnete ich ihm hoch an. Besser noch: Ich konnte ihm alles anvertrauen, was mich seit Jahrhunderten beschäftigte. Sei es das Seelenproblem, die Zeit nach seinem Tod oder finanzielle Sorgen, da ich mit meinem Buchladen nur wenige Kunden anzog. Meistens kannte ich diese auch noch gut. Neue Kunden hatte ich quasi nie. Doch jeder der einmal im meinem Laden war, würde jedesmal zu mir zurückkehren, das wusste ich. Ein Stück weit lag das an seiner Magie, die diesen Ort ebenso besonders machte, wie diesen Baum.

Baby Gays' Adventskalender [2021]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt