Kapitel 5

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Ich hielt mir das geblendete Auge kurz zu.
Unheimlich.
Es war keine Spiegelung.
Eindeutig nicht.
Ich musste jetzt wissen, was hinter dem Schlitz war.
Also kniete ich mich wieder hin und untersuchte ganz genau den Bereich drum herum.
Nichts.
Gar nichts.
Also musste ich den Schlitz vergrößern.
Doch wie?
Mit einem Messer?
Ich hatte ein winziges Taschenmesser.
Das wusste ich.
Und ich wusste auch genau wo.
Nachdem ich es geholt hatte, ritzte ich die Goldumrandung auf.
Nur dort, wo ich eh schon einen Schlitz hinterlassen hatte.
Die Klinge fuhr in den Schlitz und ich zog das Messer langsam nach rechts.
Es glitt hindurch wie durch eine Karotte.
Ganz einfach.
Ich schnitt ein ganzes Stück der Goldumrandung weg.
Das hatte ich eigentlich gar nicht gewollt.
Aber es diente dem Zweck.
Denn zum Vorschein kam ein Kristallherz.
Ich jauchzte vor Freude.
Yes!
Mit spitzen Fingern nahm ich es heraus.
Ein Kristallherz mit einem Pferdekopf.
Wenn es so gut hinter der Goldumrandung versteckt war, musste es besonders sein.
Da ertönte ein Geräusch.
Wie etwas, das auf Holz fällt.
Die Schublade!
Ich öffnete sie und in ihr lag ein Holzplättchen.
Ich tastete mit den Fingern die Decke über der Schublade ab und mein Finger griffen in ein Loch.
Ich steckte die Finger hinein und sie kamen sofort wieder ans Tageslicht
Das Loch befand sich genau dort, wo ich die Goldumrandung aufgeschnitten hatte.
Mist!
Ich hätte sie nicht aufschneiden müssen!
Das Holzplättchen hatte das Herz versteckt gehalten.
Ich hatte auf einmal ein schlechtes Gewissen.
Was machte ich nun mit der Goldumrandung?
Sie war kaputt.
Ich nahm das abgeschnittene Stück in die Hand und drehte es.
Dann stutzte ich.
Von der Rückseite war es nicht Gold, sondern gelblich-weiß.
Heißkleber!
Das war Heißkleber!
Billiger Heißkleber!
Ob es wohl nur dieses Stück war oder...
Ich schielte zur Tür, die ebenfalls eine gleich aussehendes Verzierung besaß.
Nein, rief ich mich zurück.
Es war schon schlimm genug, dass ich diese Umrandung beschädigt hatte.
Ich hielt das Herz immer noch in der Hand.
Sollte ich es mitnehmen?
Ja!
Also presste ich das abgeschnittene Stück wieder ans Bett, nahm mein Taschenmesser und huschte lautlos aus dem Zimmer.
Auf Zehenspitzen lief ich rüber in mein Zimmer und verriegelte die Tür hinter mir.
Dann begutachtete ich das Kristallherz genauer.
Was hatte es, was so besonders war?
Ich wusste es nicht.
Aber wie kann man so was bitte herausfinden?
Ich überlegte.
Wenn Louisa dieses Herz so gut versteckt hatte, das noch nicht mal ihre eigenen Eltern es gefunden hatten, dann musste es irgendetwas können.
Vielleicht war es auch einfach nur ihr Glücksbringer.
Warum hatte sie ihn dann aber nicht mit ins Flugzeug genommen?
Mein Kopf füllte sich mit immer mehr Fragen.
Ich spann ein bisschen herum.
Konnte man damit fliegen?
Ich umschloss das Kristallerz in der Hand, stellte mich auf mein Bett und sprang herab.
Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte, aber ich wurde ganz normal von der Schwerkraft angezogen und fiel auf die Knie.
Au!
Fliegen konnte ich schon mal nicht :) .
Ich legte das Herz enttäuscht weg, nahm mir ein Buch und las, bis Mom und Megan wiederkamen.
„Layla, wir sind wieder da!", rief Mom von unten.
Ich sprang auf und rannte die Treppe herunter.
Ich wollte Mom umarmen, doch sie schob mich von sich.
„Layla, wir möchten bitte mit dir reden.", sagte sie und schaute mir in die Augen.
„Was hab ich denn getan?", fragte ich kleinlaut.
Megan schob mich zum Küchentisch und wir setzten uns hin.
„Layla, es geht nicht, dass du uns anlügst!", begann Megan.
Ich schaute sie verständnislos an.
„Warum erzählst du uns Lügen von der Schule? Wir haben mit der Direktorin gesprochen und die weiß nichts von den angeblichen School Rockers!", fuhr Mom fort.
„Aber es gibt sie!", rief ich aufgebracht.
„Nein Layla es gibt sie nicht! Du lügst uns die ganze Zeit an! Diese Katharina, die dich auf der Straße festgehalten hat, ist die netteste Schülerin deines Jahrgangs! Mrs Jones hat sie rufen lassen und wir haben uns sehr nett mit ihr unterhalten!"
Megan funkelte mich an.
„Sie ist eine falsche Schlange!", rief ich und sprang auf, so wütend war ich.
Auf Mom, auf Megan, auf Katie.
„Du setzt dich wieder!", sagte Mom in einem sehr strengen Tonfall.
Ich schnaubte.
„Nein, das stimmt alles, was ich erzählt habe! Katie ist die Lügnerin!"
„Wer ist Katie?"
„Katharina!", zischte ich.
„Es ist doch nicht nur die Sache in der Schule, Layla! Du brichst auch hier alle Regeln! Halte dich gefälligst von Louisas Zimmer fern!", sagte Megan.
Doch ich unterbrach sie.
„Was ist so gefährlich oder besonders an diesem Zimmer? Geht es um das Kristallherz?"
Ich schlug mir schnell die Hand vor den Mund.
Das hatte ich nicht sagen wollen.
Ich hatte das Herz geheim halten wollen.
„WAS BITTE?", schrie Megan und sprang ebenfalls auf, „DU WARST SCHON WIEDER DA?"
Ich drehte mich um und rannte los.
Nicht etwa in mein Zimmer, nein, raus in den Garten.
Schon hörte ich meinen Namen, gerufen von Mom.
Und auch die klappernden schnellen Schritte hinter mir.
Ich rannte auf die Eiche mit der Schaukel zu und kletterte in die Baumkrone.
Mom und Megan kamen auf die Terrasse und schauten sich um.
Doch ich war schon hinter den Ästen verschwunden.
Mit unglaublich schnell klopfendem Herz saß ich eingequetscht in der großen Krone und schaute hinab.
Mom rief meinen Namen, doch ich blieb still versteckt.
Auch Megan rief nach mir, noch viel zorniger.
Da überschüttete mich ein Gefühl von Schuldbewusstsein.
Ich schniefte.
Und dann flossen die Tränen.
Ich musste mich Mom und Megan stellen.
Ich musste die ganze Wahrheit sagen und das Herz zurückgeben.
Doch ich konnte nicht.
Ich konnte es einfach nicht.
Wie sollte ich vor allem ins Haus kommen, ohne dass sie mich sahen?
Mir fiel ein, dass ich das Kristallherz in meine Jackentasche gesteckt hatte und es gar nicht mehr in meinem Zimmer war.
Schnell kramte ich es hervor.
Es glitzerte und blinkte im Schein der Sonne.
Und plötzlich wünschte ich mir, dass ich es Louisa geben könnte.
Meiner Cousine.
Dass ich mir von ihr die Schimpfe anhören könnte.
Dass ich sie kennengelernt hatte.
„Hey, was ist denn los mit dir, du weinst ja."
Ich zuckte zusammen und wäre fast vom Baum gefallen.
„Nein nein nein, ist schon okay."
Ich blinzelte in die Sonne.
Und dann schrie ich laut auf.
Denn vor mir im Baum saß ein durchscheinendes Mädchen im weißen Nachthemd.
„Hör auf!", flüsterte es.
Ich fühlte meine Stirn.
Nein, kein Fieber.
Mein Atem war laut und schnell.
Vor mir saß Louisa.
Die tote Louisa.
Mom hatte mir ihr Aussehen beschrieben.
„Bist du....bist du....bist du auferstanden?", fragte ich mit zitternder Stimme.
„Nein, du hast dich mir doch herbei gewünscht. Du hast das...."
Nun stockte auch die Geister-Louisa.
„Du hast doch nicht etwa mein Kristallherz?", flüsterte sie.
Ich machte die Hand auf und warf es ihr entgegen.
Es prallte gegen einen Ast und fiel dann in die Tiefe.
„Nein, mach das -"
Und dann war Geister-Louisa verschwunden.
Alles war wie zuvor.
Keine Spur von einer geisterhaften Erscheinung.
Ganz langsam und mit zitternden Armen und Beinen kletterte ich vom Baum hinunter.
Mom kam in den Garten.
Sie hatte wohl meinen Schrei gehört.
„Layla, was ist passiert? Wo warst du?", rief sie und rannte auf mich zu.
„Ich -", murmelte ich, dann sank ich in Moms Arme und wurde ohnmächtig.

Als ich später aufwachte, lag ich in meinem Bett, einen nassen kalten Waschlappen auf der Stirn.
Mom saß bei mir und drückte meine Hand.
„Spätzchen, wie geht es dir?", flüsterte sie leise und streichelte meine Wange.
Mein Mund war staubtrocken.
„Wasser.", röchelte ich.
Mom sprang auf und holte mir schnell ein Glas kaltes Wasser.
Das tat gut.
Danach fühlte ich mich besser.
„Was ist denn passiert, kannst du dich erinnern?", fragte Mom.
Ich konnte mich gut erinnern.
An den Streit, an die Baumkrone, an Louisa.
Leise und angestrengt erzählte ich Mom alles.
Und wirklich alles!
Sie unterbrach mich nicht.
Sie hörte einfach nur zu.
„Das Herz", murmelte ich, „liegt im Gras unter der großen Eiche."
Dann klappten meine Augenlider wieder zu.
Ich war so müde.

The secret in the crystalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt