Kapitel 6

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Ich kniete unter der großen Eiche und suchte das Gras nach dem Herz ab.
Mir ging es schon so viel besser und ich wollte nun unbedingt wissen, was es mit meinem Wunsch auf sich gehabt hatte.
Vielleicht war ich aber auch nur unterzuckert und hatte einen Kreislauf-Zusammenbruch gehabt.
Ich entdeckte ein Glitzern und griff danach.
Schon hielt ich das Kristallherz in der Hand.
Ich rang nach Luft.
Denn ich hatte nur eine Hälfte.
Das Herz war beim Fall zerbrochen!
Ich ertastete die andere Hälfte und schnitt mir in den Zeigefinger.
Ich stieß einen leisen Fluch aus.
Sofort trat Blut aus der Wunde.
Schnell schnappte ich mir beide Teile des Kristallherzens, leckte das Blut von meinem Finger und ging ins Haus, um mir ein Pflaster zu holen.
Gerade als ich den Verbandskasten mühsam mit einer Hand aufklappte, hörte ich Schritte hinter mir.
„Hallo Layla."
Ich fuhr herum.
Megan!
„Hi.", krächzte ich mit trockener Kehle.
„Layla, komm mal bitte zu mir an den Tisch.", sagte Megan und deutete auf den Küchentisch.
Ich schüttelte unmerklich den Kopf und wandte mich wieder zum Verbandskasten.
„Layla!"
Megans Stimme klang streng, doch ich kramte weiter im Kasten herum, auf der Suche nach einem einfachen Pflaster.
Ich fand eins, packte es aus und klebte es um meinen blutenden Zeigefinger.
„Layla, du weißt, dass wir reden müssen!", meinte Megan und kam näher.
Ich drehte mich schnell um und versteckte das zerbrochene Kristallherz hinter meinem Rücken.
Schon fühlte ich, wie sich die scharfe Kante in meine Handfläche bohrte.
„Du hast vorhin über das Herz gesprochen. Wo hast du es?"
Ich hypnotisierte mit meinem Blick die Blumenvase auf dem Küchentisch.
Vielleicht konnte ich Megan ja irgendwie ablenken oder-
„Layla, wo ist es?", fragte diese gerade und schielte auf meine Hände hinter meinem Rücken.
Ich kniff die Lippen fest zusammen.
„Gib es mir bitte, Layla!"
Ich wusste nicht, wie oft Megan meinen Namen in den letzten Minuten gesagt hatte.
Ich seufzte und holte die Hälften hervor.
Megan schnappte nach Luft.
„LAYLA!", rief sie dann.
„Ja, ich weiß, es tut mir leid.", murmelte ich kleinlaut und schaute auf meine Füße.
Megan eilte zu einer ihrer Schubladen und holte Sekundenkleber heraus.
Sie riss mir die Teile aus der Hand und klebte sie zusammen.
Dann atmete sie tief durch und verließ wortlos das Zimmer.
Ich sah ihr hinterher.
Ich hatte es doch gefunden!
Gemein!
Ich wollte doch Louisas Geheimnis herausfinden!
Nun würde das wohl nichts mehr werden.

Oder doch?
Ich hatte eine Idee.
Und die würde ich auch umsetzen.
Und zwar in der Nacht, wenn das ganze Haus schlief.
Ob das so eine gute Idee war, wusste ich nicht, als ich um Punkt 1 Uhr nachts auf dem Flur stand.
Überall um mir herum war es dunkel.
Ich sah kaum die Hand vor Augen.
Dennoch tastete ich mich an der Wand entlang zu Megans und Steves Schlafzimmer.
Die Tür stand einen kleinen Spalt offen.
Umso besser!

Ich stieß sie ein bisschen weiter auf und schlüpfte hindurch.
Die Vorhänge waren nicht geschlossen, deshalb konnte ich dank des Mondes etwas sehen.
Megan und Steve lagen in ihrem großen vergoldeten Ehebett.
Das Herz!
Es lag unverdeckt auf dem Nachttisch.
Wie leichtsinnig!
Ich schlich auf leisen Sohlen zum Nachttisch und nahm das geklebte Kristallherz in die Hand.
Megan atmete laut und blies mir warme Luft zu.
Doch sie schien tief zu schlafen.
Ich schlich schnell aus dem Zimmer und schrie dann so laut auf, dass Megan doch aufwachte.
Sie hastete auf den Flur und stieß fast gegen mich, weil ich stocksteif stehen geblieben war.
Der Grund dafür stand direkt vor mir.
„Paul!", flüsterte ich wütend und legte eine Hand auf mein rasendes Herz.
Die Hand mit dem Kristallherz.
Paul reagierte nicht.
„Paul?", fragte auch Megan.
Sie hatte eine Taschenlampe dabei und leuchtete ihm ins Gesicht.
Ich hätte gut und gerne noch einmal schreien können, als ich den leeren Blick meines Bruders sah.
Er schaute genau durch mich hindurch.
Ich drückte mich ängstlich an Megan, die die Ruhe behalten hatte.
„Er schlafwandelt, Lay.", flüsterte diese mir zu und legte Paul einen Arm um die Schultern.
Dann säuselte sie mit leiser beruhigender Stimme: „Komm Schatz, wir gehen wieder schlafen."
Paul ließ sich führen und Megan brachte ihn in sein Bett.
Also suchte auch ich mein kuscheliges warmes Bett auf.
Meine nackten Füße waren eh fast erfroren.
Schnell schlüpfte ich unter meine Decke und schloss die Augen.
Da klopfte es an der Tür.
„Ja?", murmelte ich und öffnete die Augen wieder.
Megan trat ein.
Ich knipste meine Nachttischlampe an.
„Hallo Layla. Ich weiß, dass es mitten in der Nacht ist, aber ich würde gerne mit dir über Louisas Kristallherz sprechen."
Ich schluckte.
Oje.
Sie hatte es gemerkt!
„Okay.", sagte ich ganz ganz leise.
Megan setzte sich auf meine Bettkante.
„Du kannst mir jetzt mal bitte erzählen, wo du es genau gefunden hast. Steve und ich suchen es schon so lange. Wir konnten die Möbeln nicht verkaufen, weil wir nicht wussten wo es ist. Ich hatte die Hoffnung schon verloren, dass es wirklich in ihrem Zimmer war. Louisa hatte es nicht mitgenommen, das hatte sie uns gesagt. Ich wollte nicht, dass du es in die Hände bekommst, weil es...naja, du solltest es einfach nicht bekommen!"
Ich unterbrach Megan.
„Ich weiß. Ich....ich habe Louisa gesehen."
Megan starrte mich mit weit geöffneten Augen an.
„Du hast dir etwas gewünscht, habe ich recht? Etwas von Herzen, genau in dem Moment?"
Ich nickte.
„Dann hatte sie recht!", flüsterte Megan und strahlte mich an.
Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Womit hatte sie recht?"
Megan erzählte mir, dass Louisa ihren Eltern die Sache mit dem Kristallherz lange verschwiegen hatte.
Dann, als die Wünsche außer Kontrolle geraten waren, hatte sie Megan eingeweiht.
Doch das Herz hatte Louisa ihrer Mutter nicht gezeigt.
Vor dem Urlaub hatte sie dann gesagt, dass sie das Herz vorsichtshalber zuhause lassen würde.
Denn die mit im Haus lebenden Freunde wussten nichts von den Wünschen und wenn im Urlaub wieder etwas geschah...
Als das Flugzeug abgestürzt war, hatte es in Louisas Zimmer einen lauten Knall gegeben und die Spieluhr hatte gespielt.
Das Zimmer war komplett verraucht gewesen.
Doch es hatte keine Brandstelle gegeben.
Irgendwann war Megan das Herz eingefallen, das Louisa zuhause gelassen hatte, und sie hatte Steve eingeweiht.
Die beiden waren sich einig, dass sie kein einziges Möbelstück entsorgen konnten, bevor das Kristallherz nicht aufgetaucht war.
Megan lächelte mir zu.
„Und nun hast du es gefunden!"
Ich war verwirrt.
Warum hatte sie mich dann so angeschrien?
Das verstand ich ehrlich nicht.
Denn sie lobte mich ja!
„Ich habe es in einem Geheimfach in ihrem Bett gefunden.", erklärte ich und schlug die Augen nieder, „Dabei habe ich allerdings das Bett und den Heißkleber kaputtgemacht."
Megan lachte laut auf.
„Ach ja, Louisa und ihre Vorliebe alles zu verzieren. Überall in ihrem Zimmer hat sie Heißkleberumrandungen hin geklebt und mit Goldfarbe verziert. Das durfte sie dann im ganzen Haus machen!"
Ich hielt die Luft an.
Kein echtes Gold sonst?
Hatten sie also doch nicht so viel Geld?
Ich fragte meine Tante zögernd danach.
„Die Villa hat meinen Eltern gehört und wir haben sie schließlich übernommen.", erklärte diese mir.
Plötzlich ergab alles einen Sinn.
Ich fasste mir an die Stirn.
Oh mann!
Das Kristallherz lag unverdeckt auf meinem Nachttisch, doch Megan schien es gar nicht zu bemerken.
Ich jedoch hatte kein gutes Gefühl mehr dabei, dass das Herz wieder bei mir war.
Würde ich es Megan allerdings zurückgeben, könnte ich damit keine Tests mehr machen.
Okay, ich wusste, dass es Wünsche erfüllen konnte.
Aber ich wollte nun mal wissen, was für Wünsche es alles erfüllen konnte.
Also hielt ich dicht.
Megan wünschte mir eh eine restliche gute Nacht und ging selber wieder schlafen.
Doch ich war viel zu aufgeregt und wach.
Ich nahm das Herz in die Hand und startete ich die ersten Tests:
Ich wünschte mir, dass mein ganzes Zimmer mit Bonbons getränkt werden würde.
Ich kniff die Augen fest zusammen und wünschte es mir ganz ganz doll.
Doch es passierte nichts.
Und zwar gar nichts.
Kein einziger Bonbon.
Enttäuscht legte ich das Herz wieder weg.
Ich hatte es mir doch so doll gewünscht!
Warum klappte das denn nicht?
Mit meinem Wunsch Louisa zu sehen hatte es doch sogar auf der Eiche funktioniert.
Ich ließ mich seufzend auf mein Bett fallen.
Ich war zwar immer noch hellwach, aber am nächsten Tag war Schule.
Und ich hatte eh schon zu wenig Schlaf.
Ja, ich hätte den Wecker verfluchen können, als er um 6 Uhr klingelte.
Ich war totmüde und meine Augenlider klappten immer wieder zu.
Dennoch schleppte ich mich irgendwie ins Bad und zog mich auch irgendwie an.
Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich mich über Nacht in einen Augenringe-Panda verwandelt hatte.
Da musste dann wohl Moms Make-Up leiden.
Und das tat es auch.
Meine Augenringe waren weg, aber dafür hatte ich gefühlt Kilogramm Schminke im Gesicht.
Lidschatten, Mascara, Eyeliner, Lippenstift und orangene dicke Schichten im Gesicht.
Denn ich hatte eine viel hellere Haut als Mom.
Nein, so konnte ich doch nicht in die Schule gehen!
Erstens hatte ich fast keine Ahnung vom Schminken und der Eyeliner war total schief.
Zweitens wusste ich nicht wie diese ganze Schminke in mein Gesicht gekommen war, weil ich immer noch nicht richtig wach war.
Und drittens würde Mom das nicht akzeptieren.
Seufzend nahm ich Abschminktücher und rubbelte das ganze Zeug aus meinem Gesicht.
Danach sah ich nun mal wieder aus wie ein Panda.
Aber das war mir egal.
Dann würde ich halt das erste Mal Kaffee trinken, um wach zu werden.
Ich stolperte die Treppe herunter und zur sprechenden Kaffeemaschine.
Mom war noch nicht da.
Also drückte ich auf den nächstbesten Knopf an der Maschine und stellte eine Tasse drunter.
„Ihr doppelter Espresso wird vorbereitet.", sagte sie.
„Doppelter Espresso?", rief ich erschrocken.
Das war ja unglaublich viel Koffein.
Ich wollte doch nur einen Milchkaffee oder so.
Schon plätscherte die braune Flüssigkeit in meine Tasse.
Ich drückte schnell ein paar Knöpfe um den Vorgang zu stoppen.
„Kaffee Latte wird hinzugefügt."
Ich stöhnte.
Nein!
Nach dem Kaffee Latte lief die Tasse fast über.
Ich zog sie weg und schnupperte.
Igitt!
Ich hasste ja eigentlich Kaffee.
Ich hatte schon öfters Moms Kaffee probiert.
Zögernd nahm ich einen kleinen Schluck und verbrannte mir die Zunge.
Bitter, igitt igitt!
Ich stellte die Tasse ab und schmierte mir rasch am Tisch ein Brot.
Mom kam die Treppe runter und schnupperte wie ein Kaninchen.
„Hast du mir schon einen Kaffee gemacht? Das ist ja toll von dir, danke Spätzchen!"
Mom gab mir einen Kuss.
Ich stieß ein paar merkwürdige Laute aus, die eigentlich so viel heißen sollten wie: Nein, das ist ein missglückter doppelter Espresso mit Kaffee Latte.
Mom schnappte sich den Kaffee und probierte ein paar Schlucke.
„Igitt, was ist das denn?", rief sie dann.
Ich schaute sie belustigt an.
Ihr Gesicht war gold wert.
Mom goss den Kaffee weg und machte sich einen neuen.
Dann setzte sie sich zu mir an den Tisch.
„Na, freust du dich auf die Schule?", fragte Mom und biss von ihrem Brot ab.
„Ne, nicht so.", murmelte ich lahm.
Mom konnte das nicht verstehen.
„Warum, Spätzchen? Deine Schule ist toll und deine Freunde doch auch! Warum freust du dich nicht?"
Mom hatte beide Augenbrauen hochgezogen.
Ich schaute auf den Honig, der von meinem Brot auf den Teller tropfte.
Dann sagte ich ausweichend: „Ich habe meine Schultasche oben vergessen. Komme gleich."
Und schon war ich verschwunden.
In meinem Zimmer packte ich schnell meine Hefte und Bücher in die Umhängetasche und wollte das Zimmer schon verlassen, als etwas hinter mir blitzte.
Das Kristallherz.
Ich strich über es und überlegte.
Sollte es mit?
Ja!
Entschlossen nahm ich es in die Hand.
Vielleicht konnte es mir ja irgendwie helfen...
Schnell rannte ich über den Flur, stürmte die Treppe herunter und zum Auto, wo Mom schon wartete.
Wir holten Susan ab, die sonst wieder mit dem Bus hätte fahren müssen.
Wir kamen gerade pünktlich zur Schule.
7 Minuten vor dem Gong.
Susan und ich beschleunigten unseren Schritt und betraten das Gebäude.
Ich lachte, weil meine Freundin gerade einen Witz erzählt hatte.
Plötzlich prallte ich gegen jemanden.
Als ich aufschaute, sah ich genau in Isabelles Gesicht.
„Lays, das hat Konsequenzen!"
Ich schluckte.
Neben Isabelle stand Katie mit verschränkten Armen.
Ihr Mund war verkniffen und sie schaute mich mit einem Blick an, als würde sie mich gleich mit ihren Augen verbrennen.
Susan klammerte sich an meinen Arm.
Ihre Finger bohrten sich in meine Haut.
Die Panik stieg in mir hoch.
Ich verspürte solch eine Angst vor Isabelle und das nur, weil sie größer war als ich.
Und stylischer.
Eine Hochsteck-Frisur, Lidschatten, Mascara, roter Lippenstift, ein bauchfreies Shirt, knallenge Jeans mit vielen Löchern und schwarze Pumps, die Isabelle noch viel größer machten.
Plötzlich packte Isabelle mich am Arm, so fest, dass ich aufschrie.
Alle Schüler um uns waren ganz still.
Dann begannen sie zu tuscheln und machten einen großen Bogen um Isabelle, Katie, Susan und mich.
Susan krallte sich immer noch an meinen einen Arm, Isabelle an meinen anderen.
Isabelle riss mich an sich, sodass ich ihr Parfüm roch.
Ein agressives Parfüm, was in der Nase kribbelte.
Ich verspürte den Drang zu niesen.
„Wehe du kommst nach der Schule nicht zum Friedhof. Dann wird deine Schulzeit hier unangenehm!"
Isabelle ließ mich schlagartig los.
Dann zog sie mit Katie ab.
Ich blieb wie angewurzelt stehen..
Meine Beine bewegten sich nicht vom Fleck.
Ich bewegte mich nicht vom Fleck.
Und Susan krallte sich noch mehr in meinen Arm.
Ich löste mich mühevoll aus meiner Starre und nahm ihre Finger aus meinem Arm.
„Du...Du wirst da doch nicht...hingehen, oder?", flüsterte Susan und blickte mich mit angsterfülltem Blick an.
Ich atmete einmal tief durch.
„Doch, das werde ich! Denn die kann mich mal! Ich habe doch keine Angst vor ihr!"
Und das war natürlich gelogen.

The secret in the crystalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt