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Zoe hatte ihren Kopf in meiner Halsbeuge vergraben und schien noch nicht gewillt zu sein, sich wieder der Außenwelt zu stellen, deshalb warf ich Ryan ein entschuldigendes Lächeln zu und sagte: „Wenn du einen Moment Zeit hast, bin ich gleich wieder bei dir, aber erst muss ich mich um meine Tochter kümmern“. „Klar, ich habe Zeit“, antwortete er und warf mir ein so unverschämt strahlendes Lächeln zu, dass mir ganz kurz die Luft wegblieb. Ich entfernte mich ein Stück von Ryan, hockte mich dann hin und ließ dabei ganz langsam meine Tochter herunter, die sich immer noch an meinem Hals festgeklammert hatte. „Hey, der böse Mann ist jetzt weg“, sagte ich sanft und streichelte ihr beruhigend über den Rücken und wartete geduldig darauf, dass sie von selbst ihre Hände löste. Ganz vorsichtig ließ sie mich los und ich drückte ihr einen Kuss auf den Kopf. Sie schaute mich aus verweinten Augen an und ich spürte wieder Wut auf diesen Idioten in mir aufsteigen, der meine kleine Tochter so eingeschüchtert hatte. Am liebsten würde ich ihm nochmal hinterherlaufen und ihm meine Meinung geigen, aber Zoe war jetzt wichtiger. „Warum war der Mann so böse? War das meine Schuld?“, fragte sie und erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen, die dafür sorgten, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog. „Nein, Engelchen. Der Mann hatte einfach nur einen schlechten Tag“, beruhigte ich sie und wischte mit einer Hand ihre Tränen weg, während ich mit der anderen über ihren Kopf strich. Die Tränen versiegten und sie schniefte und zog die Nase hoch. Schnell kramte ich in meiner Jackentasche nach einem Taschentuch und hielt es gegen ihre Nase. „Einmal fest prusten“, forderte ich sie auf und machte es ihr vor, bis sie meine Geste imitierte und in das Taschentuch hineinschnaufte.

Nachdem ich ihre Nase geputzt hatte, schien auch ihr Mut wieder zurückgekehrt zu sein, denn sie starrte an mir vorbei Ryan an und fragte neugierig: „Wer ist das?“. „Das ist Ryan. Ein Freund von mir. Soll ich ihn dir vorstellen?“, fragte ich lächelnd. Sie zögerte einen Moment, bevor sie nickte und nach meiner Hand griff. Ich richtete mich auf und gemeinsam gingen wir wieder zu Ryan zurück, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Ungewöhnlich schüchtern drückte Zoe sich an meine Seite, als wir schließlich vor Ryan standen. Das mochte vielleicht damit zusammenhängen, dass sie gerade eben noch diese schlechte Erfahrung gemacht hatte. Doch Ryan schien Erfahrung mit Kindern zu haben, denn er hockte sich vor Zoe und sorgte dafür, dass er auf einer Augenhöhe mit ihr war. „Hi, ich bin Ryan. Und wer bist du?“, stellte er sich vor und lächelte sie dabei warm an. Zoe warf mir einen kurzen Blick zu und ich lächelte sie ermunternd an. „Zoe“, sagte sie leise und ich spürte, wie ihre Finger sich noch ein bisschen fester an meinen festklammerten. Doch ihre Schüchternheit hielt nicht lange an und sie platzte mit einer Frage heraus: „Bist du ein Engel?“, fragte sie neugierig und ich biss mir auf die Unterlippe um ein Lachen zu unterdrücken. Das war seit neustem ihre Lieblingsfrage und sie stellte sie allen möglichen Leuten. Die meisten waren damit überfordert, doch Ryan brauchte nur einen winzigen Moment bevor er seine Überraschung verborgen hatte und antwortete: "Wenn, dann dürfte ich dir das nicht verraten. Denn Engel müssen auf der Erde geheimbleiben“. Er zwinkerte ihr zu und mein Herz ging auf. „Aber ich bin auch ein Engel, sagt Mommy“, erwiderte meine Tochter und warf sich stolz in Brust. „Na, wenn das so ist, dann darf ich dir ja meine Engelsflügel zeigen“, sagte er verschwörerisch und ließ sich in den Schnee fallen und machte einen Schneeengel. Fassungslos sah ich ihn an und konnte nicht glauben, dass er das gerade wirklich getan hatte. Sein Mantel sah aus als würde er mehr kosten als mein Jahresgehalt und er ließ sich damit einfach in den Schnee fallen und machte sich zum Affen um meine Tochter zu beeindrucken. Wie erstarrt sah ich dabei zu, wie Zoe sich danebenfallen ließ und ebenfalls begann mit ihren Armen den Schnee beiseitezuschieben und in meinem Herzen passierte etwas. Es zerschmolz wie Butter in der Sonne. Als hätte Amor einen Pfeil auf mein Herz abgeschossen, zog es sich zusammen, nur um sich dann auf die doppelte Größe auszudehnen. Zoe und Ryan gemeinsam herumalbern zu sehen, berührte eine Stelle in mir, von der ich nicht mal gewusst hatte, dass sie existierte. Hätte mich später jemand gefragt, in welchem Moment ich mein Herz endgültig an Ryan verloren hatte, dann wäre es exakt dieser Moment gewesen, den ich genannt hätte. „Mommy, du musst dir auch Flügel machen“, sagte Zoe und strahlte mich von unten an. Und mit einem breiten Lächeln ließ ich mich neben die beiden fallen.

Einen gebauten Schneemann und viel Gekicher von Zoe später, schlenderten wir zusammen zu meiner Wohnung. Zoe hatte sich eine Hand von mir und eine von Ryan geschnappt und wenn man uns so betrachtete, sahen wir bestimmt aus wie eine kleine Familie. Und dieser Gedanke ließ kleine Schmetterlinge in meinem Bauch aufstieben. Viel zu schnell waren wir an meiner Wohnung angekommen und ich schloss die Tür auf. Zoe drückte sich sofort an mir vorbei in die Wohnung und ließ mich und Ryan alleine an der Tür zurück. Nervös spielte ich mit dem Schlüsselbund in meiner Hand und eine seltsame Stille breitete sich zwischen uns aus. Keiner wusste was er sagen sollte. „Ich –“. „Magst –“ , begannen wir gleichzeitig und brachen dann peinlich berührt ab. „Du zuerst“, forderte Ryan mich auf und ich atmete tief ein und aus, bevor ich erneut ansetzte: „Magstduvielleichtmitreinkommen?“. Ich presste die Frage schnell hervor. Es war ewig her, dass ich jemanden eingeladen hatte mitreinzukommen, außer meine Nachbarin und war dementsprechend nervös. Ein schiefes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Klar, wenn es dir nichts ausmacht gerne“. Ich trat einen Schritt beiseite und ließ ihn herein, bevor ich die Tür schloss und die kalte Luft aussperrte. Wir zogen unsere Mäntel und Schuhe aus. Bevor ich die Tür zum Wohnzimmer öffnete, hielt ich kurz inne und rieb mir verlegen über den Nacken. „Es ist wohl nicht sonderlich aufgeräumt“, warnte ich ihn vor. Als alleinerziehende Mutter mit einem Vollzeitjob, ging die Ordnung der Wohnung sehr oft unter. „Das macht mir überhaupt nichts. Wenn man einmal in deiner Studentenwohnung war, dann schreckt einen so schnell nichts mehr ab“, neckte mich Ryan amüsiert und mir schoss das Blut in die Wangen. „Haha“, sagte ich und öffnete die Tür. Ryan ließ seinen Blick durch die Wohnung wandern und angespannt wartete ich seine Reaktion ab. Mein finanzieller Spielraum war auch mit Kindergeld nicht besonders hoch und meine Wohnung dementsprechend klein und unmodern. Doch Ryan lächelte nur und sagte: „Man kann sehen, dass hier die Liebe wohnt“.

Nachdem ich Zoe für ihren Mittagsschlaf in ihr Bett gebracht hatte und einen Kaffee aufgebrüht hatte, saßen wir vor dem kleinen Kamin. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so gut mit Kindern kannst“, äußerte ich und klammerte mich an meiner Kaffeetasse fest. „Mein Bruder hat einen Sohn. Ich besuche ihn und seine Familie so häufig wie möglich. Wahrscheinlich habe ich es da gelernt“, erklärte Ryan und ein liebevolles Leuchten trat in seine Augen, bei der Erwähnung seines Bruders und seines Neffen. Der Blick in seinen Augen sorgte dafür, dass ich ihn am liebsten geküsst hätte. Doch nachdem ich ihn letztens so harsch abgewiesen hatte traute ich mich nicht. „Ja, wahrscheinlich“,  murmelte ich ein klein wenig abgelenkt und starrte auf seine Lippen. Waren sie mir in den letzten paar Sekunden nähergekommen? Oder sprach da der Wunschvater des Gedanken aus mir? Meine Kehle war mit einem Mal ganz trocken und ich schluckte und befeuchtete meine Lippen. „Katy...“, sagte Ryan mit rauer Stimme und schickte damit einen Schauer über meinen Rücken. „Ja?“, fragte ich ein wenig außer Atem. „Wenn du mich weiter so anschaust, dann hält mich nichts mehr davon ab dich zu küssen“, sagte er mit belegter Stimme. „Dann lass sich nicht davon abhalten“, hauchte ich. Und als hätte er nur auf diese Worte gewartet, verringerte Ryan den letzten Abstand zwischen uns und verschloss meine Lippen mit seinen. Reflexartig schlossen sich meine Augenlider und ein Seufzen entfuhr mir, als sich unsere Münder gegeneinanderbewegten. Seine Lippen waren, weich aber ein wenig trocken von der Kälte draußen und fühlten sich fantastisch auf meinen an.Ryan umfasste meinen Kopf mit einer Hand und zog mich noch näher an sich heran. Ich schlang meine Arme um seinen Nacken und öffnete meinen Mund, was Ryan sofort nutzte um seine Zunge dazwischengleiten zu lassen. Ein ungeduldiger Tanz entstand zwischen unseren Zungen. Ryan schmeckte nach Kaffee und einem Hauch von Minze. Ein Geschmack der süchtig machte und dafür sorgte, dass ich mich hoffnungslos in Ryan verlor. Jedes Zeitgefühl ging mir abhanden, während Ryan mich küsste, als hätte er das schon ein Leben lang tun wollen. Der flüchtige Kuss, den wir damals, bei dem Wahrheit – oder – Pflicht – Spiel geteilt hatten, war nichts dagegen und als wir schließlich keuchend voneinander abließen, brauchte ich einen Moment, um mich zu erinnern wo ich mich überhaupt befand. Ryan war der Erste, der seine Sprache wiederfand: „Katy, das war... Verdammt, das war fantastisch!“. Ich nickte nur – unfähig meine Gedanken in Worte zu fassen. Ryan schein sich zu sammeln und in seinem Kopf zurechtzulegen, was er sagen wollte. „Ich weiß, dass ich dich das eigentlich nicht fragen sollte. Und wenn du Nein sagst, dann kann ich das absolut nachvollziehen. Immerhin hast du ein Tochter – die übrigens wirklich anbetungswürdig ist – und außerdem bin ich ein Idiot und die Bäckerei ist auch unglaublich zeitraubend...“. Er brach ab und schien Mut zu sammeln für die nächste Frage. „Aber ich muss dich das jetzt fragen, weil ich mich sonst nachher als Idiot beschimpfen würde und die ganze Nacht wachliegen würde. Willst du... willst du meine Freundin sein?“. Er sah mich so nervös an, dass mein Herz überging. Denn war Ryan Jackson schon jemals nervös? Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. „Vielleicht macht mich das genauso sehr zu einer Idiotin wie du es bist, aber ja!“, erwiderte ich. Und dann drückte ich erneut meine Lippen auf seine.

Die Liebesbäckerei -  eine Adventskalendergeschichte Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt