ওKapitel 4 ✓

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Wie war sowas überhaupt möglich?

Das war die Frage, die mir in den nächsten Tagen Kopfzerbrechen bereitete.
Am Tag raubte sie mir meine Aufmerksamkeit und in der Nacht den Schlaf.
In der Schule ging ich Oliver möglichst aus dem Weg, worüber er aber auch ganz froh zu sein schien.

Auch Tyler schien das zu gefallen, denn immer, wenn er Oliver sah, ließ er irgendeine grimmige Bemerkung über ihn fallen.
"Wie er hier rumstolziert. Was glaubt er, wer er ist?" , "Wie die Mädchen ihn anschmachten. Was sehen sie nur in ihm? Er hat nichts im Kopf und die Frisur, die er AUF seinem Kopf trägt ist auch unerträglich" , "Wenn ich Blondie schon reden höre, wird mir schlecht" und "wie ich ihn hasse", waren nur einige Beispiele.
So kannte ich Tyler überhaupt nicht.

Trotzdem erdete mein bester Freund mich mit diesem Gerede ein bisschen. Es war Gerede von einem High School Schüler, der über die Frisur eines anderen lästerte. Es war so normal, so herrlich banal und alltäglich, dass ich meine Gedanken über Oliver schon fast verwerfen wollte. Vielleicht war es albern, zwischen ihm und meinem Tod irgendeinen übernatürlichen Zusammenhang zu sehen. Vielleicht war das ein Zufall und die Anzeichen, die ich sah, waren bloße Einbildung.
Vielleicht hatte ich ihm Unrecht getan und mich grundlos wie eine Irre aufgeführt.

So gerne wollte ich das glauben.
Aber Olivers Worte:"Pass auf. Mach die Augen auf." Gingen mir nicht aus dem Kopf. Genauso, wie seine Reaktion, als ich ihm dieselben Worte zuflüsterte. Da stimmte irgendwas nicht.

Je mehr ich das Thema jedoch zerdachte und in meinem Gehirn neu und immer wieder neu Revue passieren ließ, desto mehr wurde mir klar, dass ich bisher nur die Tatsache beachtet hatte, dass ich ihn im Tod sah und er daraufhin plötzlich in meinem echten Leben auftauchte. Diese Vorstellung machte mir Angst, ließ mich schaudern und zittern, als würde statt Blut urplötzlich kalter Schnee durch meine Venen rauschen.
Aber nie hatte ich den Inhalt dessen beachtet, was er mir, als ich starb, gesagt hatte.
"Pass auf. Mach die Augen auf". Und daraufhin hatte ich die Augen geöffnet und war zurück im Leben.

Mochte sein, dass ich jetzt endgültig verrückt wurde, aber vielleicht war er der Grund, warum ich noch lebte. Vielleicht hatte er meinem Herzen mit seinen Worten einen Anstoß gegeben um weiterzuschlagen. Im dem Fall wäre mir das alles noch immer nicht geheuer, so absolut gar nicht, aber immerhin würde das heißen, dass ich keine Angst vor Oliver haben musste. Dass er kein Dämon war, der mich aus dem Tod heimsuchte, sondern viel eher ein Schutzengel.

Ich war ehrlich: Es fühlte sich absolut lächerlich an, sowas überhaupt in Erwägung zu ziehen. Sowas gab es nicht, weder im Leben noch im Tod.
Ich glaubte nichtmal so richtig an die ganzen Bibelgeschichten, die ich im Konfimationsunterricht lesen musste: von Wunderheilungen und Menschen, die das Meer teilen konnten - da glaubte ich erst Recht nicht an Schutzengel oder Dämonen.
Vielleicht wurde ich ja doch verrückt.
Vielleicht hatte mein Gehirn von meinem Aussetzer einen gewaltigen Schaden davon getragen.
So viele Vielleicht's und dafür keine einzige stichfeste Antwort - Was für eine perfekte Bilanz!

Trotz meiner Zweifel beschloss ich, Oliver zur Rede zu stellen. Ich hatte mich ihm gegenüber eh schon so verrückt aufgeführt, dass ich sowieso nichts mehr zu verlieren hatte. Außerdem würde ich alles tun, um diese Ungewissheit endlich zu beenden. Ich musste die Bilanz verbessern - mehr Antworten und weniger Vielleicht's.

Ich war zurück im Leben. Und dieses Leben wollte ich leben - ohne dabei die Ganze Zeit mit meinen Gedanken in diesen Geschehnissen herumzukramen.
Dafür brauchte ich Antworten - um damit abzuschließen.
Ich musste einfach mit ihm reden.

Und das tat ich, als ich ihn am nächsten Tag in der Schule sah.
Er stand an seinem Spind und räumte ein paar Bücher aus.
"Ich muss kurz was erledigen, okay?", wandte ich mich an Delly, während mein Blick bei Oliver blieb.
Meine Schwester reagierte, so wie es typisch für sie war: Sie quiekte euphorisch auf und flüsterte geradezu hektisch:"Endlich wirfst du auch mal deine Angel aus! Ich bin so stolz auf dich. Lass dein Mauerblümchen-Dasein hinter dir und schnapp dir dieses Zuckerstückchen!".
Das zeigte mir, dass sie meinen Blick zu Oliver gesehen hatte und vollkommen falsche Schlüsse daraus zog.
"Klar doch", antwortete ich triefend vor Sarkasmus, den Delly aber gut und gerne übersah.

Kurz sah es für mich so aus, als würde Oliver einen Mundwinkel zu einem Schmunzeln verziehen. Doch keine Sekunde später, widmete sich jegliche Regung in seinem Gesicht nur noch dem Ärger darüber, dass irgendein Scherzkeks wohl die Seiten seines Mathebuchs zusammengeklebt hatte.
Komisch. Hatte ich mir das nur eingebildet? Vielleicht wurde ich wirklich paranoid - Na toll, ein weiteres Vielleicht.

"Nun geh schon!",sagte Delly grinsend und machte mit ihrer Hand eine scheuchende Bewegung, als wäre ich eine Fliege, die sie durch den Fensterspalt aus dem Wohnzimmer scheuchen wollte.
Wenn dass nicht funktionierte, holte sie für gewöhnlich die Fliegenklatsche oder den Staubsauger - da war sie völlig skrupellos.

Um von meiner verrückten Schwester wegzukommen und nicht, wie die aufsässigen Fliegen zu enden, tat ich, was sie mir sagte und ging zu Oliver.

"Hi". Ein vollkommen normaler Einstieg. Gut so. Alles cool, alles normal.
Er richtete seinen Blick auf mich, fledderte sein Mathebuch, für das keine Hoffnung mehr bestand, in seinen Spind und schob mit der Hand eine blonde Strähne aus seiner Stirn. "Hey, was gibt's?".
Wo sollte ich nur anfangen?
"Ich würde gerne mit dir reden." Meine Stimme klang viel angespannter, als beabsichtigt. Sei locker!, redete ich mir selbst wie ein Mantra zu.
Kurz sah Oliver mich einfach nur an. Dann nickte er. Auch er wirkte ziemlich angespannt, wenn ich ihn mal genau unter die Lupe nahm: sein Kiefer war vollkommen versteift und sein Blick huschte nervös hin und her, als würde er um jeden Preis vermeiden wollen, ihn zu lange auf meinem verweilen zu lassen.

Wieder war es so ruhig, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören, bis das Klingeln der Schulglocke zur ersten Stunde die Stille zerriß. Ich schreckte auf und fügte hinzu:"Nach der Schule".
Wieder ein Nicken von Oliver, das eine widerspenstige Haarsträhne zurück in seine Stirn schleuderte.

Anschließend machte ich mich auf den Weg zum Unterricht, kehrte jedoch nochmal zu ihm zurück, um noch eine bestimmte Sache loszuwerden. Das musste jetzt einfach sein. Ich empfand schier den unwiderstehlichen Drang danach, das folgende auszusprechen.
"Ach, Oliver, ich dachte, die Phase, in der wir nur Nicken, hätten wir mittlerweile überwunden."
Sein Blick fand wieder meinen und ich sah genau, wie es um seine Mundwinkel zuckte. Wie sich ein Grinsen auf seine Lippen stehlen wollte, er es jedoch unterdrückte.
Dann machte ich kehrt und ging wirklich zum Unterricht.

Da unsere Stundenpläne identisch waren, hätten wir zwar auch gemeinsam gehen können, aber das »Ich wende mich ab und lasse dich stehen« hatte einfach eine viel bessere Wirkung.
Daran, dass ich beim Gehen seinen Blick in meinem Rücken spürte, merkte ich, dass meine Geste ihre Wirkung nicht verfehlt hatte.
Das war ein cooles Gefühl.

❝when the angel falls you're dead❞ || ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt