Kapitel 8

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BRUNO

Ich saß gerade am Nähen der kleinen Kostüme für Amigo und Carla, als es an meine Tür klopfte. Wer klopfte denn? Mamá oder meine Schwestern würden einfach reinkommen, wenn sie etwas wollten und Besuch bekam ich auch keinen, der klopfte. Nicht einmal Lia tat das, und sie war die einzige, die mich freiwillig besuchen kam.
"Ja?", rief ich verwirrt zur Tür und drehte mich um. Sie wurde von Linda, Lias Freundin, geöffnet. Was machte sie denn hier? "Linda? Was gibt's?"
"Du musst mitkommen. Lia hat ein Problem und ich hab das Gefühl, dass du der einzige bist, der sie jetzt beruhigen kann", antwortete sie. "Sie ist bei mir zuhause, ich hab ihr gesagt, dass ich dich hole." Lia hatte ein Problem? Was war denn zuhause passiert? Ich stand auf.
"Na klar, ich komme sofort. Was ist denn passiert?", fragte ich besorgt nach und verstaute die kleine Nadel in meiner Schublade.
"Das soll sie dir selbst sagen, aber es ist nicht schön", wich Linda aus, bevor wir zusammen das Haus verließen und den Weg zum Dorf einschlugen. Linda wohnte in einer abgelegenen Gasse am Ende des Dorfes, in einem kleinen, gelben Haus, das schon viele Jahre dort stand. Genauso wie Lia und ich war sie mit wenigen Monaten hierher gekommen und ihre Eltern hatten das Haus eigenständig errichtet. Ich bewunderte die Bewohner von Encanto dafür, dass sie ein ganzes Dorf quasi mühelos errichtet hatten. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob ich das geschafft hätte. Linda schloss die Tür auf und führte mich die kleine Treppe hinauf in ihr Zimmer. Lia saß dort auf dem Bett und wirkte absolut verzweifelt.
"Hey, Lia, was ist passiert?", fragte ich besorgt und setzte mich neben sie auf das kleine Bett. Sie sah mich an und ich bemerkte, dass sie geweint hatte. Sie hatte sich die Tränen zwar abgewischt, aber ich konnte es ihr trotzdem ansehen. Sie zitterte leicht, als sie sich noch einmal über die Augen wischte und sich etwas aufrechter hinsetzte.
"Mein Vater hat mich nach Hause geholt, weil er wollte, dass ich Mamá helfe, alles für den Besuch der Marques fertig zu machen. Die sollten später zum Abendessen kommen, weil Cristiano um meine Hand anhalten will. Mein Vater hat mich ihm schon versprochen und da bin ich ausgerastet und weggelaufen", erklärte sie und sah mich an. "Was soll ich jetzt machen? Nach Hause kann ich nicht!" Ich war absolut fassungslos. Esteban wollte Lia zur Heirat zwingen?! Was dachte er sich denn bloß dabei?! Er konnte sie doch nicht dazu zwingen, jemanden zu heiraten, den sie nicht mochte! Jeder im Dorf wusste, dass Lia Cristiano nicht leiden konnte, aber andererseits gab es niemanden außer Cristiano selbst, der ihn mochte. Ich wusste nicht, was ich Lia sagen sollte, also nahm ich sie einfach in den Arm, sie fiel erschöpft gegen meine Schulter. "Wieso tut er mir das an?"
"Ich weiß es nicht, ich kann es auch nicht glauben", antwortete ich unsicher. Sie seufzte leise und sah mich an.
"Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, aber könntest du nachsehen, was passiert? Ich muss wissen, ob ich diesen Kampf verliere und Cristiano wirklich heirate", sagte sie und sah mich flehend an. Wollte sie etwa eine Vision haben?
"Du willst eine Vision?", fragte ich verwirrt nach, sie nickte.
"Ja, bitte. Ich weiß, du machst das ungern und ich will dich auch nicht zwingen, aber...", begann sie, doch ich unterbrach sie, indem ich ihre Hand nahm und sie bestärkend drückte.
"Ist schon gut, für dich mache ich das gerne. Das ist wichtig", wandte ich ein und sah sie an. "Wollen wir gleich gehen?" Sie lächelte mich an.
"Ja. Danke, ich bin dir was schuldig", meinte sie, ich schüttelte den Kopf.
"Bist du nicht, ich mache das gerne für dich", widersprach ich ihr und sah Linda an. "Willst du mitkommen?"
"Wenn ich darf", erwiderte sie, ich nickte.
"Klar", stimmte ich zu, sie nickte.
"Danke, dann komme ich mit." Wir gingen zusammen zurück zu Casita, die uns die Tür öffnete. Wir gingen in meinen Turm und stiegen die vielen Treppen hinauf, doch auf halber Strecke blieb Lia stehen, um Luft zu holen. Sie lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen, um nicht in den tiefen Abgrund neben uns sehen zu müssen.
"Soll ich dich tragen? Kannst du nicht mehr?", fragte ich, sie schüttelte den Kopf.
"Schon gut, gib mir einfach eine Minute", lehnte sie ab, also setzte ich mich auf eine Treppenstufe und wartete, bis sie nach einer Minute nickte und wir weiterlaufen konnten. Ich öffnete die Tür zu meinem hohen Raum, der voller Sand war und in dem ich meine Visionen hatte. Der Sand rieselte sanft von der Decke, als wir uns die Mitte des Raumes setzten. Ich sah Linda an.
"Warst du schon mal dabei?", fragte ich sie, weil ich wusste, dass der Vorgang des Visionenhabens auf alle beim ersten Mal ziemlich gruselig und gefährlich wirkte. Lias Freundin schüttelte den Kopf.
"Nein, bisher noch nicht", antwortete sie, worauf ich ihr meine Hand hinhielt und die andere Lia gab.
"Du solltest dich festhalten. Du musst aber keine Angst haben, es passiert nichts", sagte ich, worauf sie Lia unsicher ansah, aber die lächelte.
"Es passiert wirklich nichts, vertrau ihm. Bruno kann das", beruhigte sie sie, also gab sie mir ihre Hand. Wir hielten uns fest, während ich die Augen schloss und mich zu konzentrieren versuchte. Ich stellte mir eine Uhr vor, die mit ihren Zeigern immer schneller nach vorne ging, bis sich diese fast schon selbstständig machten und sich so schnell drehten, dass ich keine Kontrolle mehr über sie hatte. Ich spürte den starken Wind, der um uns herumwirbelte und öffnete die Augen. Der Sand wirbelte kräftig um uns herum, während sich ein grüner Schleier darüber gelegt hatte. Ich sah mich im Sandsturm um und bemerkte, dass Lia genau das gleiche tat. Nach einigen Sekunden tauchte eine grüne Silhouette vor uns auf, die Lia sein musste. Sie stand vor Casita und winkte, bevor sie sich zu entfernen schien. Sie ging? Wohin ging sie? Würde sie Encanto etwa verlassen? Was bedeutete das? Ich schloss die Augen und versuchte mich noch mehr zu konzentrieren, aber davon bekam nur Kopfschmerzen, also öffnete ich die Augen wieder. Lia drehte sich in meiner Vision um und schien ins Dorf zu laufen, wo eine Feier im Gange war. Und was trug sie da? Ein Hochzeitskleid? Am Anfang des Dorfes wartete jemand auf sie, mit ausgestreckten Armen. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber versuchte mich darauf zu konzentrieren, bekam dabei aber solche starken Kopfschmerzen, dass ich leise aufkeuchte. Meine Konzentration ließ nach und sofort fiel der Sand über uns zusammen. Ich ließ Lia und Linda los und hielt eine grüne Tafel in der Hand. Auf dieser war Lia zu sehen, wie sie auf diese Person zuging. Wer war das? Was hatte ich da gesehen? Ich sah Lia an, die wortlos aufstand und weglief.
"Lia, warte!" Ich ließ die Tafel liegen, rappelte mich auf und rannte ihr nach, Linda folgte mir. "Es tut mir leid, wirklich!"
"Ich weiß, du kannst nichts dafür! Du machst die Zukunft ja nicht, du siehst sie nur. Aber so wie es aussieht, werde ich Cristiano doch heiraten müssen", erwiderte sie und ich hörte, dass sie leise schniefte.
"Das wissen wir doch gar nicht! Man kann das Gesicht nicht erkennen!", wandte ich sofort ein und sah Linda hilfesuchend an, aber die zuckte auch nur die Schultern.
"Wer soll es denn sonst sein?", konterte Lia. "Ich fasse es nicht! Mein Vater kommt mit seiner Zwangsheirat wirklich durch!"
"Das ist noch nicht sicher, Lia! Wir tun alles, damit das nicht passiert, versprochen! Wir stehen alle hinter dir!", beruhigte Linda sie. "Du kannst so lange bei mir bleiben, wie du möchtest. Du musst nicht nach Hause gehen." Lia seufzte und blieb stehen.
"Danke, aber im Moment würde ich gerne etwas alleine sein, wenn es in Ordnung ist", meinte sie, bevor sie weiterlief und mein Zimmer verließ. Ich wollte Lia nicht alleine lassen, nicht jetzt, wenn sie so verzweifelt war. Ich musste ihr nach, und selbst, wenn ich nur neben ihr sitzen würde, aber dann war ich wenigstens bei ihr. Mehr wollte ich im Moment nicht.

Ich brauche dich, BrunoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt