Kapitel 10

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BRUNO

Ich hielt Lia das Bild auf, sodass wir wieder auf die Galerie klettern konnten. Von unten hörten wir Stimmen, die wild durcheinander redeten. Ich konnte Esteban, Ines, Linda, Mamá, Julieta und Pepa hören, also hatten wohl alle mitbekommen, was gerade eben passiert war. Ich sah Lia an, doch die seufzte und straffte die Schultern.
"Lass uns gehen, es ewig vor uns herzuschieben bringt nichts", sagte sie, also drückte ich bestärkend ihre Hand, bevor wir die Treppe hinunter gingen. Alle standen zusammen an der Tür und schrien sich gegenseitig an, doch verstummten sofort, als wir Hand in Hand die Treppe hinunter kamen. Ich wollte Lias Hand nicht loslassen, ich hatte das Gefühl sie beschützen zu müssen. Ines sah auf und rannte auf ihre Tochter zu, bevor sie sie stürmisch umarmte.
"Lia, amor! Was ist passiert?", fragte sie besorgt und drehte ihren Kopf ins Licht. Sie schien das Blut an ihrer Lippe und Estebans Handabdruck auf ihrer Wange zu sehen, denn sie drehte sich um und sahen ihren Mann wütend an. "Wie konntest du unsere Tochter schlagen?!"
"Sieh sie doch nur an, Ines! Sie rennt weg und dann auch noch zu diesem Versager! Sie muss einsehen, dass sie nur ihre Zeit verschwendet! Sie hätte eine gute Zukunft, wenn sie einfach nur einmal das tun würde, was ich ihr sage!", schrie Esteban sie an.
"Schluss! Ich will nicht, dass du so über meinen Sohn redest!", ging Mamá wütend dazwischen, während über Pepa eine dunkle Gewitterwolke aufzog. Dazu setzte ein heftiger Wind ein, der selbst nach einigen beruhigenden Worten von Julieta nicht nachließ. Pepa war also wirklich sauer. Richtig sauer.
"Alma, bei allem Respekt, aber dein Sohn ruiniert nur die Zukunft meiner Tochter! Sie wird jetzt mit uns mitkommen und mit Cristiano zu Abend essen!", wandte Esteban wütend ein und wollte nach Lias Arm greifen, aber ich zog sie beschützend hinter mich.
"Nein", widersprach ich ihm, worauf er seine Augen zu wütenden Schlitzen verengte.
"Du Bengel wagst es, dich gegen mich aufzulehnen?!", fauchte er gereizt.
"Ja, tu ich. Du hast Lia schon genug angetan, sie wird bestimmt nicht irgendwen heiraten, den sie nicht einmal leiden kann!", erwiderte ich mit fester Stimme, obwohl ich innerlich vor Angst starb. Glücklicherweise kam Linda mir zur Hilfe und stellte sich neben mich.
"Genau! Lia wird bei einem von uns bleiben, bevor sie noch unglücklicher wird!", stimmte sie mir zu und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Sie bleibt bei uns, das wird vorerst das Beste sein. Morgen können wir in Ruhe darüber reden, aber für heute ist es genug!", wandte Mamá ein und sah uns alle der Reihe nach ernst an. "Casita, würdest du unsere Gäste bitte hinausbegleiten?"
"Das wird nicht nötig sein, Alma. Wir sehen uns morgen, Amalia. Und wenn du dann immer noch der Meinung bist, dass du deine törichten Ideen weiter ausführen musst, dann lernst du mich aber mal kennen!", fuhr Esteban Lia an, bevor er seine Frau am Arm packte. "Komm, Ines, wir gehen. Amalia hat anscheinend keinen Respekt mehr vor ihren Eltern." Er zerrte Ines mit sich aus dem Haus. Lia seufzte leise und kam hinter mir hervor, worauf Linda sie sofort umarmte. Julieta redete weiter auf Pepa ein, die sich eilig über ihren Zopf strich und damit die Wolken und den Wind zum verschwinden brachte.
"Danke, ich bin euch allen etwas schuldig", sagte Lia erleichtert, während Linda sie wieder losließ.
"Nein, das bist du nicht. Wir haben die Pflicht dem Dorf zu helfen und das tun wir. Erst recht in so einem heftigen Fall", widersprach Mamá ihr. "Geht es dir gut, Lia?"
"Ja, es geht schon", antwortete Lia ihr.
"Soll ich dir eine Arepa holen? Dann hörst du auch auf zu bluten", fragte Julieta, Lia nickte.
"Ja, das wäre nett, danke", stimmte sie zu, worauf meine Schwester in der Küche verschwand.
"Kann ich dich alleine lassen oder soll ich noch hierbleiben?", fragte Linda Lia, doch die schüttelte den Kopf.
"Ist schon gut, du kannst gehen. Ich komme klar", antwortete Lia, also nickte Linda und ging nach einer weiteren Umarmung. Sobald die Tür zufiel, seufzte Lia erleichtert und drückte meine Hand. "Danke, dass du für mich eingestanden bist. Das war sehr mutig von dir."
"Ich konnte ja nicht zulassen, dass Esteban dir noch mehr antut", meinte ich und lächelte sie an, sie erwiderte das Lächeln.
"Lia, vielleicht wäre es gut, wenn du heute Nacht bei uns bleibst. Morgen kümmern wir uns dann um alles weitere, ja? Jetzt sollten wir uns vielleicht erstmal von diesem Schock erholen. Julieta, Pepa, könntet ihr vielleicht nachsehen, ob ihr Lia etwas zum Schlafen leihen könnt?", bat Mamá Pepa, während Julieta aus der Küche zurückkam und Lia eine Arepa gab, in die sie genüsslich hineinbiss. Sofort verschwand das Blut von ihrer Lippe und ihr schien es sehr viel besser zu gehen.
"Ja, das machen wir", stimmte Pepa zu, bevor die beiden nach oben gingen. Mamá holte tief Luft und sah dann Lia an.
"Ist dein Vater schon einmal handgreiflich geworden, Lia?", fragte sie besorgt nach, meine beste Freundin schüttelte den Kopf.
"Nein, bisher nicht. Er war zwar immer sehr streng, aber er hat mich nie geschlagen. Und ich hätte ihm auch nie zugetraut, dass ich ihm so egal bin und er mich mit jemandem verheiratet, den ich nicht einmal mag", antwortete Lia ihr. Alma legte ihr eine Hand auf die Schulter.
"Es wird besser, bestimmt. Wir kümmern uns morgen darum, ja? Jetzt solltest du dich erstmal hinlegen und von allem erholen. Es war ein langer Tag", beruhigte sie sie, Lia nickte.
"Ja, das war es. Danke, Alma. Ich weiß deine Gastfreundschaft wirklich zu schätzen." Mamá nickte nur, worauf wir nach oben gingen. Casita klapperte leise mit den Ziegeln und schob Lia in Richtung des Kinderzimmers. Sie lachte. "Danke, Casita. Ich weiß, dass ich auch auf dich immer zählen kann."
"Auf jeden von uns - zu jeder Zeit, an jedem Ort", fügte ich hinzu und lächelte sie an, bevor ich nach ihrer Hand griff. Sie lächelte mich an.
"Ich weiß. Danke, Brunito. Du bist ein wahrer Schatz", sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich wurde rot und strich mir verlegen eine schwarze Locke aus den Augen. Hatte Lia mich gerade wirklich auf die Wange geküsst? Das war das erste Mal gewesen, dass mich jemand geküsst hatte - und wenn es nur auf die Wange war.
"Ähm... danke. Ich will dir nur helfen", erwiderte ich, um von meiner leichten Verwirrung abzulenken.
"Ich weiß, und das weiß ich auch wirklich zu schätzen. Kann ich heute Nacht bei dir übernachten? Ich würde mich bei dir am sichersten fühlen", bat sie, ich nickte.
"Natürlich, gerne. Mamá wird das zwar sicherlich nicht gefallen, aber wir beziehen dir einfach das Bett neben meinem, ja? Dann bin ich jederzeit sofort da", stimmte ich zu, sie lächelte.
"Gute Idee. Dann lass uns das mal machen", sagte sie, bevor sie mich ins Kinderzimmer zog. Amigo und Carla hüpften sofort auf Lias Schulter und quiekten, bevor sie an ihrem Zopf schnupperten. Lia kicherte leise und hob die beiden auf ihre Hand. "Mir geht's gut, ihr zwei, aber danke, dass ihr euch Sorgen macht. Ihr seid wahre Freunde - genauso wie euer Besitzer." Sie lächelte mich an.
"Na ja, ich bin nicht wirklich ihr Besitzer. Wir sind nur... Freunde." Gott, klang das erbärmlich. Ratten als Freunde! Mein Leben war wirklich traurig.
"So wie wir", erwiderte Lia und umarmte mich. "Und ich könnte mir niemand besseren als Freund wünschen! Kannst du mir etwas versprechen?"
"Was denn?", fragte ich neugierig nach.
"Wenn es doch soweit mit dieser Zwangsheirat kommen sollte, würdest du mir dann den Gefallen tun, die Hochzeit zu sprengen und für Cristiano einzuspringen? Du bist der Einzige, mit dem ich mein Leben verbringen will", bat sie, worauf ich perplex innehielt. Natürlich wollte ich ihr helfen, aber ihr letzter Satz machte mich doch etwas stutzig. Was meinte sie damit? Und was sollte ich darauf jetzt antworten?

Ich brauche dich, BrunoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt