Kapitel 12

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Fünf Tage waren nun seit dem Vorfall vergangen. Fünf Tage, seit ich tagsüber nicht mehr aus meinem Zimmer getreten war. Die Angst erneut erkannt zu werden war einfach zu groß. Deswegen schlich ich mich nur nachts raus. Mir war klar, dass die anderen sich Sorgen machten, besonders Toshiro, doch ich konnte mich einfach nicht überwinden. Die Angst lähmte mich regelrecht und ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte.

Wenn ich mal aus meinem Zimmer kam, um auf Toilette zu gehen, oder mir eine Kleinigkeit zu essen zu holen, versuchte mein Bruder immer wieder erneut auf mich einzureden. So auch jetzt. »Chiro, du weißt, dass das nichts bringt. Du kannst dich nicht ewig verstecken«, sagte er verzweifelt. Ohne zu antworteten ging ich an ihm vorbei und schloss in meinem Zimmer die Tür hinter mir zu.

Ich lehnte mich an der Tür an und rutschte langsam an ihr runter. »Ich weiß«, flüsterte ich mit Tränen in den Augen. Ich wusste es wirklich, und doch tat ich nichts dagegen. »Kageyama war vorhin wieder da«, kam es nach einer Weile von der anderen Seite der Tür. Scheinbar saß er, wie ich, an der Tür gelehnt. »Ich weiß.« Hinata und Tobio waren nicht zu überhören gewesen.

»Willst du nicht mal mit ihm reden? Er macht sich fürchterliche Sorgen und gibt sich selbst die Schuld für alles«, brummte er. Ich schüttelte meinen Kopf, bis mir bewusstwurde, dass er das ja nicht sehen konnte. »Nein«, hauchte ich deshalb. Ich hatte Angst, was er nun von mir dachte. Schließlich hatte ich ihm vorenthalten, wer ich tatsächlich war. Kann sein, dass das keinen großen Unterschied für ihn machte, doch für mich war es nun mal eine große Sache.

Ich konnte von Glück reden, dass Eiskunstlauf nicht so bekannt war, wie beispielsweise Volleyball. So konnte ich mich größtenteils zurückziehen, ohne, dass jemand Wind davon bekam, dass ich den zweiten Platz bei der Weltmeisterschaft gemacht hatte, dass ich der aktuell beste Eiskunstläufer Japans war.

Der Druck, der in dieser Zeit meinen Alltag bestimmt hatte, brach über mich zusammen und vergrub mich unter Zweifeln. Ich wusste, dass ich gut war, in dem, was ist tat, doch dem Druck der Gesellschaft konnte ich einfach nicht mehr standhalten. Bei dem Halbfinale der Weltmeisterschaft hatte ich meine erste Panikattacke, konnte mich aber dazu aufraffen beim Finale anzutreten. Schließlich hatte ich lange für diese Kür geübt. Die Kür, mit der Haruki seinen Wettbewerb gewonnen hatte.

Doch nach dem Finale, als ich ein Interview geben sollte, bin ich komplett zusammengebrochen. Die ganzen Lichter und Mikrofone, die ganzen Menschen, die ununterbrochen Fragen stellten, waren zu viel. Fragen, wieso ich nur Zweiter geworden war, was passiert ist, dass ich den letzten Sprung vermasselt hatte.

Nach diesem Tag hatte ich mich einen Monat lang verschanzt. Immer wieder bekam ich aus dem Nichts eine Attacke, wenn ich wieder zu sehr an die Ereignisse dachte. Toshiro war zu dieser Zeit immer an meiner Seite gewesen und ist nicht von ihr gewichen, egal wie sehr ich ihn von mir stieß.

»Du willst heute Nacht bestimmt wieder zur Halle, nicht wahr?«, holte mich Toshiro aus meinen Gedanken. »Was?! Du weißt davon?«, fragte ich verwundert. Ich achtete eigentlich immer darauf, dass er bereits schlief, wenn ich mich aus der Wohnung schlich. »Natürlich. Wir sind Zwillinge, schon vergessen? Ich würde wahrscheinlich in deiner Situation dasselbe tun«, gab er zurück.

Eine Weile blieb es ruhig, bis er erneut das Wort ergriff. »Hast du was dagegen, wenn ich mitkomme?«, fragte er leise. Ich blieb still. Eigentlich ging ich ja nur nachts, weil ich dann alleine war. Doch mit meinem Bruder war es sicher besser. »Gerne«, sagte ich daher. Ätzend stand ich auf und schloss meine Tür wieder auf.

Toshiro stand mir leicht lächelnd gegenüber. Augenblicklich ging ich auf ihn zu und schlang meine Arme um ihn. Wir standen einige Minuten einfach nur da und umarmten uns, ohne etwas zu sagen. »Hol deine Sachen und lass uns gehen«, murmelte er. Schwerfällig nickte ich und ging zurück in mein Zimmer, schnappte meine Tasche und folgte Toshiro.

Ich liebte das Gefühl alleine in der riesigen Halle zu sein. Wenn ich das Licht anmachte und das einzige Geräusch meine Schritte waren. Ohne uns umzuziehen, liefen wir direkt auf die Eisfläche zu, schnürten unsere Schlittschuhe und traten aufs Eis. Ich stellte mich an die Bande und schwang mein Bein über sie, um mich wenigstens ein bisschen zu dehnen.

»Ich habe eine Idee!«, erklang nach einer Weile die Stimme meines Bruders. Abwartend drehte ich mich zu ihm um. »Wir schauen, wer es am längsten aushält eine Pirouette zu drehen«, fuhr er fort. Ich zog meine Augenbrauen in die Höhe und sah ihm skeptisch entgegen. »Sicher, dass du eine Chance hast?«, fragte ich. Er lachte nur und fuhr in die Mitte der Halle.

»Okay! Auf drei fangen wir an«, sagte er und machte sich bereit. Ich stellte mich ebenfalls richtig hin und wartete auf das Zeichen. Nachdem es erklang, nahm ich Schwung und drehte mich immer schneller um meine eigene Achse. Immer wieder veränderte ich meine Position, damit mir der Schwung nicht verloren ging.

Es verging eine ganze Weile, bis ich neben mir wahrnahm, dass Toshiro angehalten hatte. »Du hättest locker noch länger durchgehalten, was?«, keuchte er, während er sich an den Knien festhielt, um nicht umzukippen. »Ziemlich locker sogar«, lachte ich. Ich wusste, dass er sich das selbst nur antat, damit ich auf andere Gedanken kam und dafür war ich ihm verdammt dankbar. Deswegen fuhr ich nun auf ihn zu und schlang erneut an diesem Tag meine Arme um ihn.

»Danke«, flüsterte ich in sein Ohr. »Dafür hat man doch seinen Zwilling, oder?«, erwiderte er und ich wusste, dass er bei diesen Worten grinste. »Außerdem ist das alles nicht so selbstlos, wie es scheint. Schließlich muss ich deine Kurse übernehmen!« Lachend knuffte ich meinen Ellenbogen gegen seine Rippen.

Wir liefen noch eine Weile durch die Gegend, bis mir auffiel. Dass es bereits nach Mitternacht war. »Wir sollten langsam nach Hause gehen«, sprach ich. Nun sah auch Toshiro geschockt zur Uhr. »Oh shit. Ich muss doch morgen früh raus!«, beschwerte er sich.

Auf der Bank, die hinter der Bande stand, zogen wir wieder unsere Schuhe an. Gemütlich gingen wir die Treppen hoch und machten noch das Licht aus, bevor wir auf den Ausgang zusteuerten. Kurz vor der Tür fiel mir auf, dass ich noch etwas aus dem Büro holen musste, also lief ich schnell zu den Räumen, während mein Bruder bereits nach draußen ging.

Ich schnappte mir die Unterlagen und lief zurück. Als ich ebenfalls nach draußen trat, hielt ich augenblicklich inne. Vor mir stand nämlich nicht mehr Toshiro. 

Déjà Vu - Kageyama x male OCWo Geschichten leben. Entdecke jetzt