Kapitel 8

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Enzo redete die ganze Zeit auf mich ein, seitdem ich mich aufraffen konnte, zu ihm zurückzukehren und mit ihm das Schiff zu verlassen. Ich zerrte ihn an seinem Arm die Treppen hinab, ohne seine Frage zu beantworten, was eigentlich vorgefallen und warum Malikov so urplötzlich verschwunden war.

Erst als Ricardo den Wagen vor die Yacht meines Bruders fuhr und wir uns unter Deck befanden, wagte ich es, aufzuatmen. Doch Enzo ließ mir keinen Moment Zeit, um das Geschehene zu verarbeiten, sondern zerrte mich in sein Schlafzimmer, während er Ricardo mit kühler Stimme befahl, uns alleine zu lassen.

»Du erklärst mir jetzt sofort, was passiert ist, Kenna! Hast du ihn zurückgestoßen? Seine Hand weggeschlagen? Was hast du gemacht?«, brüllte er wütend und lief in seinem Zimmer auf und ab.

Ich legte beide Hände über mein Gesicht, um mich vor seiner Wut abzuschirmen. Eine alte Angewohnheit aus meiner Kindheit, als ich glaubte, mich so vor dem Zorn meines Vaters schützen zu können, wenn ich mal wieder etwas angestellt hatte. Die Ironie lachte mir bitter entgegen, da mein Bruder derjenige gewesen war, der es mir beigebracht hatte.

Ein trockenes Schluchzen fand den Weg in die Öffentlichkeit, doch Enzo war so ungeduldig, dass er meine Hände einfach wegzog und mich fest bei den Schultern packte.

»Was hast du gemacht?«, knurrte er.

»Gar nichts!Niente! Er hat mich bedroht, mit einem Messer! Er weiß es, Enzo. Oder wenigstens ahnt er etwas!«, schrie ich zurück und schubste ihn von mir. »Ich habe alles gemacht, was du wolltest. Ihn an mich rangelassen, ihn nicht zurückgestoßen und trotzdem ist er misstrauisch! Er will, dass ich ihm sage, wenn du dich gegen ihn wendest!«

Jetzt war ich diejenige, die wie eine Wildgewordene durch die Kabine rannte. Ich knickte um und fluchte laut.

»Das hast du bestimmt nur falsch aufgenommen«, redete mein Bruder Malikovs Übergriff klein und machte eine wegwerfende Handbewegung.

Diese Blindheit, die er jedem meiner Probleme entgegenstellte, ließ solch einen Zorn in mir hochkochen, dass ich einfach ausholte und ihm mit voller Wucht eine klebte.

»Habe ich nicht, du beschissenes Arschloch!«, schrie ich, während er sich wieder fing.

In seinem Gesicht loderte Wut. Verwirrt folgten meine Augen ihm dabei, wie er zu dem Schreibtisch stürmte, der an der gegenüberliegenden Wand stand. Er griff in eine der Schubladen und ehe ich mich versah, blickte ich in den Lauf einer Waffe. Das Klicken der Sicherung brachte mich augenblicklich wieder zur Vernunft. Enzo lief mit gewaltigen Schritten um den Tisch herum, bis er direkt vor mir stand und mir die Pistole gegen die Stirn drückte.

Ich atmete schwer, versuchte vor ihm zurückzuweichen, doch er folgte mir bis ich gegen die Tür stieß.

»So redest du nicht mit mir, Kenna. Ich bin vielleicht dein Bruder, aber du hast mir zu gehorchen und mir Respekt entgegenzubringen«, fauchte er. Seine Hand zitterte und ich sah, wie sein Finger den Abzug umschloss.

Angst erfasste mich, schüttelte meinen Körper und trieb mir die Tränen in die Augen.  »Und ich verdiene keinen Respekt?«, fragte ich schluchzend. Ich kniff die Augen zusammen, als er sich nach vorn lehnte und der Lauf schmerzhaft gegen meinen Schädel drückte.

»Ich respektiere dich, wenn du deinen Job richtig machst«, spuckte er mir die Worte ins Gesicht. »Und wenn er das nächste Mal kurz davor ist, dir die Kehle aufzuschneiden, dann wirst du deinen Mund halten. Du gibst ihm das, was er will.«

Mit tränenverschleiertem Blick sah ich ihm in die mordlustige Miene. »Ich kann das nicht. Meine Regel besagt–«

»Deine Regel ist hiermit aufgehoben! Wenn ich es von dir verlange, dann spielst du die Hure für ihn, ansonsten bist du für mich nutzlos.« Damit senkte er die Waffe, zog mich von der Tür weg, um mich gleich darauf hinaus auf den Gang zu schubsen und sie hinter mir mit den Worten »Affari prima della famiglia« wütend ins Schloss zu werfen.

Verloren und mit der Leere in meiner Brust alleingelassen stand ich im Gang. Die Tränen flossen in Strömen über meine Wangen. Kraftlos sank ich gegen die Wand und gab mich den Schluchzern hin, die wenigstens einen Teil der Last von meinen Schultern zu nehmen schienen.

Warum war mein Bruder so sehr gegen mich? Warum ließ er zu, dass Malikov mich benutzen konnte, als wäre ich nur eine Puppe? Was war aus dem Menschen geworden, der mir nach dem Tod meiner Mutter Halt geboten hatte? Es schien, als würde er nach und nach von einer Dunkelheit vereinnahmt werden, die unaufhaltsam die Kontrolle über sein Denken an sich riss.

Ich zog die Beine an und ließ meine Stirn auf die Knie sinken, während ich darauf wartete, dass die Tränen versiegten und der Schmerz abklang. Die Person, die vorsichtig neben mich getreten war, bemerkte ich erst, als ich den Kopf hob, um mir mit dem Handrücken über die Augen zu wischen. Mein Blick schnellte nach oben und ich fürchtete, dass mein Bruder neben mir stand und mir etwas antun wollte, doch ich sah in Ricardos dunkle Augen, die voller Mitleid auf mich herabschauten. Er ging in die Knie und stützte eine Hand oberhalb meines Kopf gegen die Wand, die andere legte er auf mein Schienbein.

Als ich zu einer Erklärung ansetzen wollte, hob er den Finger an den Mund und schüttelte leicht den Kopf. Fragend sah ich ihn an, während er mich an den Armen nach oben zog und mich den ganzen Gang entlang stützte. Er steuerte auf meine Kabine zu, drückte die Tür auf und navigierte mich zum Bett. Ich sank darauf nieder, ohne großartig etwas zu spüren. Mein Verstand war betäubt. Sicherlich setzte gerade die Wirkung des Vodkas, den ich vorhin hinunterkippen musste, mit voller Kraft ein.

Wortlos kniete er sich vor mich und begann damit, mir die Schuhe auszuziehen. Mit trübem Blick beobachtete ich ihn dabei. Meine Gliedmaßen hingen leblos an mir herab und fühlten sich mit einem Mal unglaublich schwer an.

»Enzo ... er hat –«, hob ich an, doch Ricardo unterbrach mich.

»Ich weiß. Ich habe es gehört ...« Er hob die Hand und strich vorsichtig meine Haare zur Seite. »Es tut mir leid.«

Ahnungslos runzelte ich die Stirn. »Was tut dir leid?«

»Dass du das tun musst.«

Ich schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander, um die Tränen zurückzukämpfen, die schon wieder hochstiegen. Dann zuckte ich mit den Schultern und lachte freudlos auf. »Du kannst ja nichts dafür.

Ricardo sah zu Boden. »Wenn ich irgendetwas für dich tun kann ...«

»Kannst du mich halten?«, stieß ich hervor, ehe ich überlegen konnte, ob es richtig oder falsch war. Doch ich sehnte mich plötzlich nach menschlicher Nähe, ohne dass sie erzwungen war, ohne Hintergedanken.

»Kenna, du weißt doch –«, hob Ricardo unschlüssig an.

»Nur eine Umarmung. Mehr will ich nicht!«, schluchzte ich.

Der Bodyguard atmete ergeben aus, stand auf und zog mich mit sich hoch. Gleich darauf schlossen sich feste Arme um meinen Körper, der sich so benutzt anfühlte. Ich krallte mich in sein schwarzes Jackett und legte meinen Kopf auf seine Brust. Sein Herz schlug beruhigend unter meiner Ohr, während er das Kinn auf meinen Scheitel stützte.

Erleichtert schloss ich die Augen und genoss die Wärme, die von dem muskulösen Körper ausging und mich einlullte.

»Du musst stark bleiben. Du kannst es überstehen!«, war das Letzte, was ich hörte, ehe die Bewusstlosigkeit über mich herfiel.

BlutschuldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt