2. Zu Hause

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Am nächsten Morgen weckt mich mein Magen. Missmutig rolle ich mich auf den Rücken und fasse mir automatisch an den Bauch. Himmel hab ich einen Hunger! Ich hätte mit allem gerechnet, aber bestimmt nicht das mich mein Appetit weckt.

Vorsichtig bewege ich meinen Kopf, aber die erwarteten Nachwehen von gestern bleiben aus. Nicht das schlechteste! Keine Kopfschmerzen, kein Schwindel oder Übelkeit, nur Hunger und die vorsichtige Vermutung das heute Nacht etwas auf meiner Zunge gestorben ist. Wie ekelhaft!

Die Vorhänge hüllen mein Zimmer in Dunkelheit. Nur am unteren Ende dringt Licht herein und verrät, dass die Nacht vorbei ist. Um nach der Uhrzeit zu sehen, fische ich mein Handy von der anderen Bettseite und stöhne laut, aus zwei Gründen. Nummer eins es ist erst 8.50 Uhr und Nummer zwei, blinkt schon wieder meine neuste App, um mir unmissverständlich mitzuteilen, es sind neue Nachrichten eingetroffen.

Ich gehöre zu den Morgenlärchen oder Frühaufstehern, aber nach gestern Nacht möchte ich nur schlafen. Die Bettdecke ziehe ich über meinen Kopf, ignoriere den knurrenden Magen und kuschle mich zurück in mein Kissen.

Vor einer Woche habe ich mich auf einer Dating-Seite angemeldet und bis jetzt, komme ich mir damit mehr als blöd vor. Sich mit 17 über das Internet einen möglichen Partner zu suchen, klingt in meinem Kopf nach Verzweiflung. Es sollte für mich eigentlich einfach sein, so wie für alle anderen. Auf Partys gehen, Spaß haben und den Dingen seinen Lauf lassen. Aber in meinem Fall ist es das nicht und das weiß ich nur zu gut. Mehr als einmal habe ich mir die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, mit meinem Bruder oder Arie diskutiert, das Ergebnis ist immer das Gleiche. Bis ich den Führerschein habe, um mobil zu sein, bleibt mir nur das Internet, um in der näheren Umgebung nach Gleichgesinnten zu suchen.

Das kleine Dorf in Bayern, in dem ich lebe, bietet gerade Jugendlichen nicht viele Optionen und die Bus oder Bahnverbindungen sind der Horror. Dabei ist die Lage gar nicht so schlecht. München wäre eine gute Stunde entfernt, ohne Stau auf der A8, Salzburg 30 Minuten, mit dem Auto versteht sich. Mit der Bahn sind es drei Stunden bis zur bayerischen Hauptstadt, weil er an jeder Milchkanne stehen bleibt, unfassbar!

Hier gibt es genau eine Diskothek, die ich meide wie die Pest. Sie ist logischerweise total überbevölkert und die Musik ist in meinen Augen grottenschlecht. Oder sollte ich besser sagen in meinen Ohren? Es gibt noch ein paar kleinere Kneipen, sonst spielt sich alles auf privaten Festen ab.

Tja, versuch mal, schwul zu sein in einem kleinen Nest wie diesen! Leider gibt es hier keine Szene, in der ich mich austoben könnte, oder einen in meiner Altersklasse, der sich geoutet hätte, außer mir. Es mag schon sein das hier der ein oder andere lieber im verborgen bleibt, denn einfach war die ganze Sache auch bei mir nicht.

Um es mir etwas zu erleichtern, habe ich damit bis nach dem Schulabschluss gewartet, der beste Tipp, den mir meine Mutter je gegeben hat. Zwar hatte ich die volle Unterstützung meiner Mutter, die meines Bruders, David, Tobi und Arie, aber ich musste dennoch durch das blöde Gerede dieses Hexenkessels, in dem jeder jeden kennt.

Was sie über mich sagen, war mir egal und ist es bis heute. Womit ich überhaupt nicht klar kam, war, das es auch auf meinen Bruder und meine Mutter zurück viel. Das interessante daran ist: dass genau die Leute, die selber den größten Dreck am Stecken haben, den Mund am weitesten aufgerissen haben. Blöde Beschimpfungen gibt es immer wieder aber hey, hätte ich ne schiefe Nase oder würde schielen würden sie darauf rumhacken. Kurz gesagt ich komm schon klar damit.

Ganz sicher bin ich nicht, ob ich wissen will, was in den Nachrichten der App steht. Die gesamte letzte Woche habe ich Anfragen bekommen aber nur eine verschickt. Die ankommenden Anfragen waren mehr als ekelhaft und definitiv nicht das, wonach ich gesucht habe. Deren Inhalt verursacht Brechreiz. Ich bin bestimmt nicht romantisch verklärt, aber sie waren nicht nur obszön, sondern auch anbiedernd. Wer zum Henker schreibt so einem 17-Jährigen? Vielleicht liegt es an mir und ich bin zu unerfahren? Vielleicht ist es auf diesen Seiten der ganz normale Ton? Ich hab keine Ahnung und bin nicht nur von der App, von mir selbst und dem Umstand das ich sie überhaupt brauche genervt. Ich suche nicht nach einem Beziehungspartner, deshalb mache ich diesen Mist nicht! Aber wie jeder 17-Jährige, der Blut geleckt hat, würde ich gerne meine sexuellen Erfahrungen erweitern.

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