Prolog

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Die Luft ist sommerlich warm, ab und zu weht ein schwüler Wind vorbei und wenn man in den Himmel schaut, ist keine einzige Wolke zu erkennen. Die Sonne scheint auf den Spielplatz mit dem großen Klettergerüst und der silbernen Rutsche. Auf der Schaukel, die durch den Schutz einer Eiche von einem Schatten bedeckt wird, sitzen zwei Jungs. John und Mika, beide noch grün hinter den Ohren. Der Erste hat die Haare rabenschwarz und eine leichte Blässe im Gesicht. Der Andere trägt einen braunen Wuschelkopf und kommt mit einem Lächeln im Gepäck, das man meilenweit weg noch erkennt.

„Ich will nicht, dass du gehst. Du darfst mich nicht alleine lassen", sagt John und schluckt einen dicken Kloß den Hals hinunter.
„Das will ich auch nicht, aber die sagen, ich muss", antwortet Mika und blinzelt entgegen der Sonne zu seinem aller besten Freund. Er streckt seinen Arm aus und reicht John seine Hand, die dieser ohne zu zögern mit seiner so festhält, wie er nur kann.
„Und wenn wir weglaufen und uns verstecken? Ich kann das gut, niemand würde uns finden." In Mikas Stimme liegt ein Funken Hoffnung, an den er sich klammert, als wäre er das letzte Rettungsboot in einem unendlichen Ozean. Sein Freund schüttelt den Kopf. „Geht nicht, dafür sind wir zu jung."

John und Mika sind keine gewöhnlichen Achtjährigen. Schon früh mussten sie begreifen, dass das Leben nicht nur aus Liebe und Fantasie besteht. Dass es einen jeden Tag in die Knie zwingt und jedes Tröpfchen Kraft aus einem heraussaugt.
„Lass dich nicht mehr von den Anderen verprügeln, ja? Die sind nur neidisch, dass du schlauer bist als sie", sagt Mika „Ich hab dir doch diesen Karate-Move gezeigt. Das weißt du doch noch."
Energisch springt er von der Schaukel auf, nimmt mit beiden Fäusten seine Deckung ein und tut, als trete er jemanden direkt ins Gesicht. John mustert ihn genau, mit seinen großen traurigen Augen. Immer wieder kam es zu Reibereien zwischen ihnen und den anderen Kindern. Deshalb muss Mika ‚das Problemkind' -so haben sie ihn genannt- jetzt gehen.
„Idiot. Ich krieg' mein Bein doch gar nicht so hoch", lacht der Schwarzhaarige und steckt seinen Freund automatisch damit an.

Als ihr Lachen verklungen ist, kehrt eine Stille ein, die kaum ertragbar scheint. Es gibt noch so vieles zu erleben und zu sagen. Dafür reichen keine 5 Minuten, dafür braucht man ein halbes Leben. Seit Wochen wissen sie, dass der Tag kommen würde und haben sich auf diesen Moment vorbereitet, doch nichts von all ihren Vorstellungen kommt an den Schmerz heran, der nun ihre Körper durchzieht wie schwarzer Nebel.
„Wenn du nicht mehr da bist, möchte ich nie wieder aufstehen", gesteht John. Mit wem soll er nun sein Twix teilen? Mit wem soll er Fußball spielen? Mit wem soll er in einem Zimmer schlafen? John hatte immer nur Mika und Mika hatte immer nur John. Seitdem sie sich vor zwei Jahren kennengelernt haben, sind sie einander die einzige Konstante.

„Ich komme dich besuchen. Ganz oft. Wir bleiben für immer Freunde. Das ist versprochen und wird nicht gebrochen", gibt der Braunhaarige optimistisch zurück. Auch wenn sich das nach einem guten Plan anhört, braucht es nicht viel, um zwei Achtjährigen, die um jeden Preis an etwas glauben wollen, einen Strich durch die Rechnung zu machen. Wann, wie und ob die Beiden sich überhaupt je wiedersehen werden, das kann nur die Zukunft zeigen.
„Jungs! Kommt jetzt. Wie oft soll ich es noch sagen?!", ruft eine schrille Stimme aus der Ferne, die einem stechende Kopfschmerzen bereitet. Der gefürchtete Zeitpunkt rückt immer näher. Mika lässt sich zurück auf die quietschende Schaukel plumpsen und blickt auf seine Füße hinab. Gedankenverloren schiebt er mit ihnen den Sand auf dem Boden hin und her.

„Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben", sagt John so leise, dass nur sein bester Freund ihn hören kann. „Daran musst du denken, wenn du wieder glaubst, dass dich keiner gern hat."
Unweigerlich kullert Mika eine heiße Träne die Wange hinunter. Er wischt sie schnell mit seinem Handrücken weg, aber es kommen mehr und mehr nach.
„Du bist auch der wichtigste Mensch für mich."
John zögert nicht lang, er steht auf und zieht ihn in eine feste, tröstliche Umarmung. Die Arme der Beiden sind so groß, dass sie genau um den jeweils Anderen reichen. Einander nah zu sein, ist für sie wie nach Hause kommen, als könnte ihnen nichts passieren, wenn sie zusammen sind. Guckt man von außen, dann sieht man, wie ihre Körper im selben Rhythmus beben und unter Tränen nach Luft ringen.

Plötzlich schießt eine Frau mittleren Alters um die Ecke und reißt die Zwei auseinander.
„Verdammt hört ihr schlecht?! Nun komm schon Mika", fordert Gabi, die Heimleiterin, in strengem Ton. Sie ist den Zweien schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Schlimmer als ihr Kleidungsstil, der jenem einer alten Oma gleicht, ist nur ihr grimmiger Blick, den jedes Kind zu sehen bekommt, sobald es eine Minute zu spät zum Essen erscheint. Wenn sie allerdings nicht gerade damit beschäftigt ist, sich über die Affären ihres Mannes oder die hohen Preise im Supermarkt zu beschweren, kann sie wirklich spannende Geschichten erzählen.

„Nicht zu fassen, ihr heult wie zwei kleine Mädchen. Reißt euch zusammen, ein richtiger Mann kennt keinen Schmerz."
John und Mika wissen, dass sie nichts falsch gemacht haben und trotzdem hinterlässt Gabis Kommentar einen faden Beigeschmack in ihrer Erinnerung an den Abschied. Sie packt Mika am Arm und zieht ihn mit sich. Voller Angst vor dem, was vor ihm liegt, dreht er seinen Kopf und wirft John einen allerletzten Blick zu. Jener sagt so viel mehr als Worte es können: Ich werde dich vermissen. Vergiss mich nicht. Komm mich bald besuchen. Ich wünschte, wir würden für immer Freunde bleiben. Ich hab' dich lieb.
Dann ist es vorbei. Während für John der trostlose Alltag bleibt wie gehabt, beginnt für Mika ab diesem Moment ein ganz neues Leben.

Keiner Wie DuWo Geschichten leben. Entdecke jetzt