21| Showdown

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JOHN

Ich werde von zwei Armen umschlungen und über Sekunden festgehalten. Anna's braune Haare fallen mir ins Gesicht und versperren mir den Blick auf die übrige Welt. Ich lasse ihre Umarmung zu, erwidere diese jedoch nicht allzu entschlossen.
„Macht's gut ihr zwei. Ach Mensch, ich werde euch vermissen", sagt sie, nachdem sie sich wieder von mir gelöst hat. Meine Sicht wird frei und ich schaue zu Mika, der vor dem Gleis steht, auf welchem unser Zug jeden Moment ankommen sollte.

„Lasst uns nochmal alles durchgehen. Habt ihr auch wirklich alles dabei? Rucksäcke, Tickets, das Geld, das wir euch gegeben haben?", wirft Lea panisch ein.
„Ja, es ist alles da. Mach dir keine Sorgen", beruhigt Mika sie. Um 7 Uhr morgens ist der Bahnsteig mit nur wenigen anderen gefüllt und kommt einem verlassen vor. Doch dies ist nur die Ruhe vor dem Sturm. Bald werden auch alle übrigen auf der Welt aufstehen und mit ihrem alltäglichen Leben beginnen.

„Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich euch doch lieber mit dem Auto hinfahren. Grömitz ist nur fünf Stunden entfernt, ich könnte bis zum Abend wieder zuhause sein", schlägt die Kurzhaarige vor.
Ich ziehe den Reißverschluss meiner schwarzen Jacke etwas höher, da es mir in den frühen Morgenstunden noch sehr frisch erscheint. Als wir vorhin aus dem Haus gegangen sind, hat man Vögel zwitschern gehört, die ich sonst nur auf meinem Weg zur Schule höre.
„Nein. Ihr habt mehr als genug für uns getan. Den Rest schaffen wir alleine. Ehrlich jetzt."

„Davon bin ich überzeugt", mischt Anna sich ein. „Aber schreibt uns, okay? Jeden Tag, das ist Teil des Deals."
Während ich und Mika nicken, werden wir alle von einem leichten Wind erfasst. Der Zug, den wir als erstes nehmen müssen, fährt gerade in den Bahnhof ein.
„Sicher doch. Vielen vielen Dank für alles. Richtet das auch Tom aus. Ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder."

Lea kommt auf Mika zu und umarmt ihn von ganzem Herzen wie eine Mutter, die ihren Sohn gerade in die große weite Welt ziehen lässt. Sie scheint so ergriffen zu sein, dass sie sogar mich einmal kurz in den Arm nimmt und an sich drückt.
„Tschüss. Passt auf euch auf. Und verfahrt euch nicht", gibt sie uns mit auf den Weg.

Dann ist es soweit. Mika und ich drehen uns um und schauen zu, wie sich die Türen des Zuges automatisch öffnen.
„Bereit?", fragt er mich, bevor wir einsteigen.
„Nein", sage ich und erwidere seinen intensiven Blick. Wenn wir auf den Moment warten, in dem ich bereit sein werde, meiner Mutter unter die Augen zu treten, werden wir an diesem Bahnhof sterben. Entgegen meiner Worte mache ich also einen Schritt nach vorne und steige ein.

* * *

Der Zug ist leer und wir setzen uns einander gegenüber auf einen Viererplatz. In den ersten paar Stunden, die wir fahren, erholen wir uns vom frühen Aufstehen und einer nahezu schlaflosen Nacht. Zum Reden sind wir beide viel zu fertig und starren anstelle dessen aus dem Fenster in die Landschaften, die an uns vorbeiziehen. Des Öfteren treffen sich unsere Blicke zufällig, trennen sich aber auch schnell wieder.

Die Anspannung ist spürbar hoch und es ist, als stünde mein ganzer Körper unter Strom. Ich fühle mich elend, wie vor einem Vortrag in der Schule, vor dem ich mich fürchte, weil ich es nicht haben kann, von allen angestarrt zu werden. Man möchte den Moment einfach hinter sich bringen. Es ist ein innerlicher Druck, gar Schmerz, sodass ich mich die Hälfte der Zeit mit den Armen auf den Tisch zwischen mir und Mika stütze und meinen Kopf darauf ablege. Wenn nicht vereinzelt hinter- und vor uns noch Leute säßen, würde ich durch den ganzen Zug stöhnen, um das Gefühl erträglicher zu machen.

Als wir das erste Mal umsteigen, ist es 10:30 Uhr. Unser zweiter Zug ähnelt dem vorherigen. Grauer Boden, blaue Sitze und ein Tisch zwischen mir und meinem Freund. Der Braunhaarige isst ein Brötchen, das wir noch von seinen Schwestern bekommen haben und besteht darauf, dass ich das ebenfalls tue. Ich habe keine Lust auf eine Diskussion und lenke ein. Obwohl das Brötchen nicht das nervenaufreibende Gefühl in meinem Magen beseitigt, sorgt es dafür, dass mir nicht mehr so schlecht ist wie kurz zuvor.

Keiner Wie DuWo Geschichten leben. Entdecke jetzt