20. Die Wilde Jagd

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Der Frühsommerabend war angenehm lauwarm. Die Düfte und Musik des Jahrmarkts empfingen uns schon von Weitem, als wir vom Parkplatz auf die große Waldlichtung schlenderten. Auf der kühlen Wiese waren zahlreiche Holzbuden aufgebaut, an denen gebrannte Mandeln, Fladenbrote oder bunte Getränke angeboten wurden. An etwas größeren Ständen konnte man Plastikblumen beim Büchsenschießen gewinnen, oder handgemachte Dinge kaufen. Der Markt war bereits rappelvoll und die Stimmung war ausgelassen. Man begrüßte hier und dort alte Freunde aus dem anderen Rudel und stieß mit ihnen an. Hale, Frieda und ich probierten uns im Büchsenschießen und ich gewann als einzige stolz eine rote Plastikrose.

Gegen zwölf Uhr konnte man die Aufregung und Vorfreude spüren, die durch die Menge ging. Auch Frieda und Hale neben mir wurden ganz hibbelig. Als es dann Mitternacht schlug, begannen sie sich zu verwandeln. Manche gingen hinter die Buden, um sich vorher zu entkleiden, andere sprangen an Ort und Stelle in ihre Wolfsform und zerrissen dabei einfach ihre Kleidung. Beeindruckend schöne Wölfe mit glänzendem grauem oder braunem Fell liefen um mich her und sammelten sich am Waldrand. Von Weitem blickte ich ihnen hinterher, wie sie zum Wald rannten und darin verschwanden.

Es war ein seltsames Gefühl, über den verlassenen Jahrmarkt zu laufen. Die Lichter brannten noch in den Buden und die Zuckerwattemaschine rührte noch, es war nur niemand mehr weit und breit. Das dachte ich zumindest, bis ich vor einem kleinen Wagen am Rande des Jahrmarktes eine alte Frau der umherziehenden Wölfe sitzen sah.

Sie hatte eine Wolldecke über den Schultern und ein buntes Kopftuch um ihre Haare geschwungen. Während ich sie beobachtete, hob sie den Kopf und sah mich direkt an. Dann winkte sie mich zu sich.

„So bleiben also nur wir beide zurück.", meinte die Alte mit einem Lächeln. Sie bedeutete mir, sich neben sie zu setzen. Ich ließ mich auf die kleine Treppe vor ihrem Wohnwagen nieder.

„Scheint so.", murmelte ich und konnte dabei schwer meine Enttäuschung verbergen.

„Vergiss nicht, die Letzten werden die Ersten sein.", sprach sie.

Ich blickte sie von der Seite an, nicht sicher, wie ich das verstehen sollte. Dieser Spruch hatte doch noch nie Sinn gemacht.

„Deine Lebenslinien.", sagte sie, während sie auf meine Handinnenflächen deutete, die in meinem Schoß lagen, „Zeig sie mir doch mal."

Etwas unsicher hielt ich ihr meine offenen Hände hin. Aufmerksam inspizierte sie meine Handflächen, als seien sie ein archäologisches Fundstück.

„Ich kenne die Pläne der Göttin nicht, aber ich erkenne, wenn sie Großes mit jemandem vor hat.", begann sie, „Und du stehst auf ihrem Plan.", murmelte sie fast begeistert.

Sie verengte angestrengt ihre Augen und rückte etwas näher an meine Hand.

„Aber ich- ich kenne diese Linien doch!", meinte sie dann, fast atemlos.

Verwundert runzelte ich die Stirn.

„Es muss lang her gewesen sein. Ich erinnere mich an Lebenslinien, die das Gegenstück zu deinen Bilden. Ein Muster, das mit deinen verschmelzen würde. Es war bei einem kleinen Jungen, damals. Wenn ich nur wüsste, wer. Doch ich habe die Hände von so vielen gelesen, dass ich weder auf den Namen, noch das Gesicht komme.", erzählte sie nachdenklich. Dann wurden ihre Augen groß.

„Ein kleiner Junge damals muss jetzt in deinem Alter sein, vielleicht etwas älter, aber...", sie leckte sich geschäftig über die Lippen und fuhr fort, „Kind, es muss ein Mateband sein!"

Ich lächelte ungläubig.

„Das kann nicht sein.", murmelte ich, „Ich bin eine Omega."

„Na und? Du bist eine Werwölfin, wie wir alle, warum soll dich das Mateband nicht treffen können?", fragte sie verwundert.

„Weil...", ich rutschte unwohl auf dem Holztreppchen hin und her, „Weil ich eben keine richtige Werwölfin bin."

Hatte sie sich denn nicht gefragt, warum ich nicht mit den anderen in Wolfgestalt in den Wald gerannt war?

„Ich kann mich nicht verwandeln.", flüsterte ich.

Sie lächelte wissend.

„Ich weiß, Kind. Meine Augen mögen trübe sein, aber meine Erfahrung trübt mich nie. Du kannst dich nicht verwandeln. Aber du bist eine von uns. Und unsere Nachteile können auch von Vorteil sein, im richtigen Moment. Warte es nur ab. Die Göttin", sie deutete in Richtung des weiß leuchtenden Mondes, „sie sieht dich und sie hat dich nicht vergessen."

Ich musste lächeln, bei ihren lieben Worten.

Plötzlich horchte die Alte auf. Entsetzen spiegelte sich auf ihrem Gesicht.

„Sie sind hier.", flüsterte sie.

„Wer?", fragte ich alarmiert.

„Das Schicksal ist näher, als ich ahnte.", rief sie, sprang auf und verwandelte sich in einen hellgrauen Wolf. Das war das letzte, was ich von ihr sah, bevor sie in den Wald rannte.

Ich sprang auf. Gerade, als ich ihr hinterherrennen wollte, ertönten quietschende Autoreifen und grelle Scheinwerfer blendeten mich. Vor Schmerzen presste ich meine geblendeten Augen zusammen. Dann hörte ich Autotüren und Schritte. Fast blind begann ich loszurennen, doch wurde von einem schweren Körper zu Boden gerissen. Als ich mit dem Gesicht gegen die Erde gedrückt dalag, stach mir ein Geruch in die Nase, den ich auf diesem Jahrmarkt nicht erwartet hätte: Mensch. Ich wurde von einem Menschen niedergedrückt. Und den Stiefeln nach zu urteilen, die ich aus den Augenwinkeln sehen konnte, waren es mehrere.

Einer von ihnen hantierte mit einem handgroßen Gerät vor meinem Gesicht herum, das rot leuchtete. Ein Fieberthermometer, schoss es mir durch den Kopf. Er maß meine Körpertemperatur.

Werwölfe waren wesentlich wärmer als Menschen. Ihre Normaltemperatur lag bei 42 Grad. Also dort, wo es für Menschen bereits lebensgefährlich war.

Ich ahnte, dass ich es hier mit Jägern zu tun hatte. Jäger waren Menschen, die von uns wussten und uns jagten. Manchmal waren es einzelne Freaks, die mit alten Schrotflinten Werwölfe jagten. Manchmal waren es ganze Gruppen von hasserfüllten Menschen. Letztere waren sehr selten und verdammt gruselig. Sie alle hatten eines gemeinsam. Sie töteten Werwölfe auf der Stelle und ohne mit der Wimper zu zucken.

„38 Grad.", bellte derjenige mit dem Fieberthermometer.

Ich verzog das Gesicht vor Anspannung. Da ich mich nie richtig verwandelt hatte, war mein Körper kälter als der meiner Artgenossen.

„Das ist seltsam.", hörte ich eine schnarrende kalte Stimme sagen, bei der ich erschauderte. Die Stimme klang wie die eines Psychopathen und löste in mir einen Fluchtinstinkt aus. Da ich allerdings nach wie vor zu Boden gedrückt wurde, konnte ich meinem Instinkt nicht folgen.

Plötzlich entfernte sich der schwere Körper von mir, der mich festgehalten hatte und stattdessen Griff eine kalte Hand in meinen Nacken und zog mich hoch.

Ich entließ einen kleinen Schrei, als er meinen Nacken berührte. Dann sah ich ihm in die Augen. Zwei grausame kleine graue Augen inspizierten mein Gesicht. Sie gehörten einem großen drahtigen Kerl in einem Muscle-Shirt und Flecktarnhose. Er hatte kurzgeschorene Haare und eine Zigarre baumelte in seinem Mundwinkel. Ebendiese Mundwinkel verzogen sich zu einem teuflischen Grinsen. 

Alpha und Omega - Die Wege der GöttinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt