1. Die Wege der Göttin

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„Frieda? Verve? Mädchen, wo seid ihr?", ertönte Madame Relards schneidende Stimme, mit der sie ohne Probleme Amphibien aus dem Winterschlaf reißen könnte. 

Anfangs war ich immer zusammengezuckt, wenn sie rief. Mittlerweile verzog ich nur noch die Mundwinkel. Ich blickte zu Frieda, die die Augen verdrehte und eine Grimasse zog. Dann trat sie an die Tür des Speisesaals, um Madame Relard über unseren Verbleib zu unterrichten. Erleichtert, dass das als oberste Hausangestellte ihr zufiel und nicht mir, beugte ich mich wieder über das Silberbesteck. Ich rieb die schweren Gabeln und Messer so lange mit dem Tuch, bis sie fast so silbern strahlten wie der Mond.

„Wir sind hier, Madame, und polieren das feine Besteck. Wie sie es uns aufgetragen haben.", machte Frieda auf sich aufmerksam.

„Das ist ja unglaublich, Mädchen, ihr seid immer noch beim Besteck? Bis morgen muss alles Tip Top sein. Picobello, kein Staubkorn darf zu sehen sein, jedes Blumenarrangement muss an Ort und Stelle, jede Serviette im richtigen Winkel liegen.", gackerte sie.

Ich atmete tief ein und seufzte leise. Madame Relard war die Luna unseres Werwolfrudels, die Frau unseres Alphas. Sie war eine anspruchsvolle Arbeitgeberin für uns Hausangestellte. Sie scheuchte uns umher und war nie zufrieden. Aber noch nie hatte ich sie so in Aufruhr gesehen, wie in den letzten zwei Wochen. Unser Alpha würde Besuch von einem jüngeren, aber weitaus mächtigeren Alpha bekommen, der viele Wölfe unter sich vereinte und dessen Territorium in den letzten Jahren stark gewachsen war. Für unser kleines Rudel erhoffte sich unser Alpha Relard die Gunst und vor allem den Schutz des größeren. Um diesen mächtigen Alpha zu beeindrucken und ihm Honig um den Bart zu schmieren musste natürlich eine Menge aufgefahren werden. Das Haus musste Glänzen und ein Dinner musste serviert werden, für das sich die wohlhabenden Relards in Unkosten stürzten. 

Und da war noch mehr. Ich kannte die Luna mittlerweile zu gut, um nicht bemerkt zu haben, dass sie sich eine noch viel engere Verbindung zu dem Alpha erhoffte, als bloße Bekundungen guten Willens. Sie hoffte auf eine Hochzeit zwischen ihm und ihrer Tochter Miranda. Miranda Relard war eine Tochter, die ganz nach ihrer Mutter kam und war geradezu fixiert darauf, den fremden Alpha für sich zu gewinnen. Tagtäglich holte ich teure Kleider beim Schneider ab, die sie anprobierte und für nicht gut genug befand. Und just in diesem Moment flatterte sie in den Speisesaal.

„Mutter, ich habe deine Personalplanung für Samstag gesehen. Meinst du wirklich-", sie warf einen Blick auf mich und senkte ihre Stimme etwas, aber weiterhin gut hörbar: „Meinst du wirklich, es ist eine gute Idee, die Omega als Kellnerin einzuteilen."

Ich hielt den Atem an und biss mir angespannt auf die Unterlippe.

„Vielleicht wird der Alpha es als Beleidigung auffassen, wenn die Rangniedrigste ihn bedient.", erklärte Miranda.

„Miranda Liebling, sie wird ihm nicht auffallen. Sie ist fleißig und unauffällig. Und sie ist keine Frau, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Sie ist perfekt dafür.", erwiderte Madame Relard, ohne sich darum zu scheren, ob ich sie hörte oder nicht. Warum auch? Ich war der Omega- Wolf des Rudels. Das war Fakt. Und damit kam die Bürde, immer das Schlusslicht zu sein. Wie es dazu gekommen war, dass ich mich ganz unten in der Hierarchie wiederfand? Die Wege der Göttin sind unergründlich, würde meine Mutter sagen.

⋰˚☆⋰˚☆

Ich war abseits von Quisur, dem Städtchen meines Rudels, aufgewachsen. Meine Eltern waren Grenzwächter des Rudels und wohnten mitten in den Vogesen in einem kleinen Holzhäuschen, umgeben von bewaldeten Bergen und Tälern. Es gab keinen schöneren Ort auf der Welt. Da wir in einiger Entfernung zu Quisur wohnten, hatten mich meine Eltern während der Grundschulzeit zuhause unterrichtet. Damals hatte es mich betrübt, noch nicht die Schule besuchen zu können. Meine Kindheit dort oben war schön, aber immer etwas einsam gewesen. Ich wollte endlich Freunde kennenlernen. Ich wollte in einer Clique sein, mit der ich die Pausen verbringen und im Unterricht tuscheln konnte.

Alpha und Omega - Die Wege der GöttinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt