In Manhattan

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Eigentlich waren es keine Freunde von meiner Mutter, zu denen wir fuhren. Es waren jedenfalls keine wirklich privat kennengelernten. Nein, meine Mutter war in einer Selbsthilfegruppe für Suizidgefährdete Menschen. Ein paar Jahre nachdem wir von Zuhause weggegangen waren, hatte sie mehrere Suizidversuche gestartet. Sie waren alle gescheitert. Damals war ich zehn Jahre alt gewesen. Ich wusste nicht genau warum sie sich hatte umbringen wollen. Wir waren ja von Dad weg. Und doch schien irgendwas nicht richtig zu sein. Vielleicht einfach die Erinnerung an ihn? Sie hatte mir irgendwann erzählt, warum wir gehen mussten. Und ich konnte es nachvollziehen, dass sie weg wollte. Doch irgendwie passte das nicht mit dem letzten Bild, dass ich von Dad hatte zusammen. Er hatte mich angelächelt. Das passte doch nicht zu einem geistesgestörten, der uns alle am liebsten abgeschlachtet hätte, oder? Also wusste ich auch nicht so genau was da dran war. Aber eigentlich... es war mir nicht egal, so konnte man es nicht sagen. Aber irgendwie... gleichgültig. Solange sie in dieser Gruppe war, war alles in Ordnung. Und ich kam auch nur mit auf diese Weihnachtsfeier, weil sie mir erzählt hatte, dass jeder seine Familie, beziehungsweise die Kinder oder den Freund oder was auch immer mitbrachten. Einen engen Angehörigen eben. Und da ich die einzige war, die meine Mutter hatte, stimmte ich nach langem Überreden doch zu. Vielleicht würde es ja doch lustig werden, wenn jemand ein Kind hatte, das so alt war wie ich. Ich wusste jedoch nicht, ob dies der Fall war. Jedenfalls kamen wir am Flughafen an, und schon nach anderthalb Stunden waren wir in New York angekommen. Als ich aus dem Flieger draußen war, durchflutete mich ein Gefühl der maßlosen Erleichterung. Ich hasste enge Räume, und erst recht den Flieger. Dort konnte ich nicht fliehen. Ich hasse es zu fliegen. Aber wenn es weniger als fünf Stunden waren, ging es noch, ohne dass ich nahezu verrückt wurde. Als wir unsere Koffer hatten, gingen wir ein paar Schritte in Richtung Vorhalle des Flughafens, doch da bekam meine Mutter schon einen Lachkrampf und rannte beinahe heulend zu einer Frau hin, die sich ebenso freute. Sie fielen sich in die Arme und begannen aufgeregt zu sprechen. Wahrscheinlich hatten beide Angst, dass der andere sich doch irgendwie umgebracht hatte und waren nun einfach nur heilfroh, dass dies nicht der Fall war. Ich tapste langsam hinterher und blieb schließlich hinter meiner Mutter stehen.
„Anna, das ist meine Tochter, Cathrine. Cathy, das sind Anna und ihr Sohn Jake.", meinte Mom und lächelte. Ich nickte nur und begutachtete eine Weile den jungen Mann, der vielleicht 18 Jahre alt war. Das war also Jake. Er hatte blaue Augen, dunkelblau mit einem grünlichen Schimmer, helle Haut und schwarze Haare mit neongrünen Spitzen am Pony. Er sah... gut aus. Ich winkte noch einmal und zwang mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich wollte nicht, dass die beiden auf die Idee kamen, mir die Hand zu geben. Ich hasste Körperkontakt, egal an welcher Stelle des Körpers. Das hatte auch einen verdammt guten Grund. Es gab eine Zeit, da war meine Mutter eigentlich immer weg. Sie war nie zuhause, manchmal noch nicht einmal nachts. In der Zeit hatte ich einen Freund. Ich war damals fünfzehn gewesen, und er war eigentlich jeden Tag bei mir. Wir näherten uns immer mehr an, körperlich. Und irgendwann war es dann soweit, dass er... nun ja, Sex wollte. Ich wollte auch... am Anfang. Doch ich hatte es mir anders überlegt, allerdings war es da schon zu spät gewesen. Er hatte mich ans Bett gedrückt, meine Schenkel auseinander gedrückt und sich eben genommen was er wollte. Ich will ja nichts sagen, aber so etwas tut einfach verdammt weh. Das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Doch ich blieb ganz ruhig während dieses Szenarios und als er endlich fertig war, zog ich mich wieder an und warf ihn schreiend und mit einem Schirm verprügelnd aus meinem Haus. Naja, aus der Wohnung. Er kam nie wieder. Seit dem hasste ich es, angefasst zu werden. Niemand wusste wieso, ich hatte es nie jemandem erzählt. Warum sollte ich auch? Was brachte es mir? Mitleid? Brauchte ich nicht, in keinster Weise. Ihre Mutter nannte mich seit dem „Miss Fass-mich-nicht-an", doch das interessierte mich nicht weiter. Besser sie dachte, es sei nur irgendein pubertärer Tick als zu wissen, was ihr passiert war.
„Sie ist ein wenig schüchtern und sie redet auch nicht sehr viel.", meinte meine Mutter nach einer Weile und lächelte. Ich verdrehte die Augen und starrte zu Boden.
„Naja, das ist ja nicht schlimm. Am besten wir gehen mal nach hause, sonst kommen die Gäste und ich bin nicht da.", kicherte Anna. Sie war seltsam. Meine Mutter und Anna gingen voraus, ich tapste hinterher und bemerkte erst einige Minuten später, dass Jake neben mir herlief. Er musterte mich neugierig, und schließlich sah ich dann auch zu ihm auf.
„Ist alles okay bei dir?", fragte er schließlich. Ich nickte.
„Klar, warum denn nicht? Ich mag nur keine Flieger.", murmelte ich wahrheitsgemäß und ging stur nach vorn schauend weiter. Den Rest des Weges schwiegen wir. Ich achtete nicht wirklich darauf, wohin wir gingen, ich war dabei die vielen und großen Häuser von Manhattan zu betrachten. Im Gegensatz zu Detroit war das hier etwas ganz besonderes. Plötzlich blieben alle stehen, ich sah mich fragend um und erblickte ein großes Haus, einer Villa gleichend. Anna und Mom gingen darauf zu und Anna schloss die Tür auf. Ich folgte ihnen langsam, Jake lief noch immer neben mir her. Ich trat ein und drehte mich erst einmal staunend um mich selbst. Wir standen in einer riesigen Eingangshalle und von dort aus führte eine breite und große Treppe nach oben, dann links noch eine und weiter nach oben konnte ich nicht schauen. Mein Mund musste offen gestanden haben, denn Jake begann leise zu lachen.
„Komm mit, ich zeige dir das Zimmer, wo du in den nächsten Tagen wohl wohnen wirst. Naja, wenn es dir nichts ausmacht, natürlich.", meinte er und stieg die breite Treppe hinauf. Ich folgte ihm. Dann die kleinere nach links, und wieder eine kleinere die wieder nach links führte. Nun standen wir sozusagen auf einer Plattform über der Eingangshalle. Ich sah mich staunend um und folgte Jake gehorsam. Er öffnete eine Tür, an der ein Poster von Bullet for my Valentine hing, einer meiner Lieblingsbands, und trat ein. Ich folgte ihm. Was ich sah war ein riesiges Zimmer, mit einem großen Bett, in das bestimmt fünf Leute reinpassen würden, ein großes Sofa, einen Schreibtisch, einen Fernseher, der ebenfalls ziemlich groß war, und dann noch ein Schlagzeug auf der anderen Seite des Raumes. Meine Augen weiteten sich und ich sah mich noch eine Weile schweigend um. Viele Poster. Alle von Bands, die ich kannte. Asking Alexandria, Linkin Park, Limp Bizkit, Hopes Die Last, As I Lay Dying, Black Veil Brides,... Alle meine Lieblingsbands hingen hier an den Wänden. Ich sah Jake ein wenig überrascht an, denn irgendwie schien er nicht so der zu sein, der Metal-Fan war.
„Was ist?", fragte er lächelnd. Auch ich lächelte. Er sah so niedlich aus, wie er da stand.
„Naja, du wirkst mir nicht so wie der größte Metal-Fan aller Zeiten, weißt du? Nun, ich glaube ich werde mich hier wohl fühlen, wenn die Musik auch läuft.", grinste ich und setzte mich auf das Sofa. Er lachte und neigte den Kopf.
„Also, naja, ich würde mich jetzt nicht als den größten Fan aller Zeiten bezeichnen, aber ich bin schon überzeugt von dieser Musik. Klar läuft sie hier. Hab ich alles.", lachte er und hielt sein Handy hoch.
„Ich auch.", kicherte ich und nahm meinen iPod zur Hand. Er sah mich erstaunt an und lächelte.
„Aha, eine Metal-Braut also."
Ich zuckte mit den Schultern und nickte. Er lächelte mich an und ich lächelte zurück. Er setzte sich neben mich und atmete einmal tief durch. Dann sah er mich an und hob eine Augenbraue.
„Magst du was trinken?", fragte er. Ich nickte und sah gerade noch, wie er aus dem Zimmer verschwand und hörte ihn die Treppen hinuntergehen. Ich stand auf und ging zum Fenster. Als ich hinaus sah fiel mir etwas auf. Dieses Jahr gab es noch keinen Schnee. Es war schon Heilig Abend, und noch nicht eine Schneeflocke war gefallen. Es war einfach nur eiskalt und trocken draußen. Mein Blick wanderte zu den Bildern, die auf der Fensterbank standen. Ich erkannte Anna, einen Mann und Jake. Dann nur Anna und den Mann auf einem zweiten. Dann, auf einem weiteren Foto erkannte ich Jake mit einem Mädchen. Sie hatte ebenso schwarzes Haar wie er, schien ein wenig jünger zu sein. Vielleicht seine Freundin? Ich wusste es nicht. Auf dem vierten Bild war nur das Mädchen zu sehen. Ich schloss kurz die Augen und lauschte. Er kam zurück. Ich setzte mich wieder auf das Sofa und schloss die Augen, dann nahm ich mein Handy und starrte auf das Display. Es war bereits fünf Uhr. Jake setzte sich neben mich und reichte mir ein Glas, dann füllte er es mit Eistee auf. Ich umklammerte es mit beiden Händen und nippte daran, während er sich selbst auch einschenkte.
„Sag mal... Wann kommen denn die anderen?", fragte ich leise. Er sah mich an und zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. So gegen sieben schätze ich. Um acht gibt's essen.", erklärte er. Dann begann er zu grinsen.
„Warum? Musst du dich noch hübsch machen?", fragte er. Ich lächelte ein wenig und sah verlegen zur Seite. Ich hatte zwar keine Lust auf diese Feier gehabt, aber wenn ich schon hingehen musste, dann wollte ich auch hübsch aussehen. Ich hatte mein weißes Kleid eingepackt, und das würde ich auch anziehen. Also nickte ich ein wenig und sah wieder auf die Uhr. Ich nippte weiter an meinem Eistee und starrte den Boden an.
„Okay, ich gehe mal meinen Koffer holen... Dann musst du mir nur zeigen, wo euer Badezimmer ist, ja?", meinte ich. Jake sah mich erstaunt an und erhob sich, ging runter und kam einige Augenblicke später mit meinem Koffer wieder hoch. Ich starrte ihn an und hob eine Augenbraue.
„Okay, danke...", meinte ich.
„Das Bad ist gleich hier nebenan.", meinte er und wies auf die nächste Tür in dem Flur. Ich nickte und verschwand mit meinem Koffer ins Badezimmer. Dort stellte ich mich als erstes vor den großen Spiegel und ließ eiskaltes Wasser über meine Hand laufen. Was war gerade passiert? Ich fand ernsthaft diesen Jungen süß. Toll. Niedlich. Er war eigentlich genau so ein Typ, den ich brauchte. Denke ich... Ich wusste es nicht. Ich kannte ihn doch kaum! Und doch schaffte er es, mich mit seinem Blick in einen Bann zu ziehen. Das war nicht gut! Ich schüttelte den Kopf und wusch mir das Gesicht, dann schminkte ich mich ab, um mich nochmal neu zu schminken. Diesmal ordentlicher und genauer. Mit Glitzerlidschatten und allem drum und dran, um mich aussehen zu lassen wie einen Engel. Als ich fertig war machte ich mir zwei kleine Zöpfe und band diese wie eine Krone oder einen Kranz um meinen Kopf. Dann nahm ich das weiße Kleid, eine hautfarbene Strumpfhose und meine weißen Ballerinas aus dem Koffer. Ich zog alles an, und betrachtete mein Werk im Spiegel. Ich sah so... märchenhaft aus. Wie ein Mädchen, das ein wunderbar sicheres und wohlbehütetes Leben geführt hatte. Unschuldig war, und dem nie etwas schlimmes zugestoßen war. Doch wie sagt man so schön? Der Schein trügt. Ich war nicht unschuldig, hatte nie ein wohlbehütetes Leben geführt und musste immer auf mich selbst aufpassen, was ab und an eben mal schief gegangen war. Ein Mal sogar ganz extrem schief. Aber nun denn, so was musste wohl passieren, wenn man so ein Leben führte wie ich. Ich atmete tief durch und ging wieder durch den Flur zurück in das Zimmer von Jake. Erst sah ich vorsichtig hinein, ob er da war oder nicht, und ich war einigermaßen erleichtert zu sehen, dass er gerade nicht anwesend war. Ich trat ein und ging ans Fenster, starrte hinaus. Es wurde nun schon ziemlich dunkel draußen. Man konnte schon die ersten Sterne und den Vollmond erkennen. Ich atmete tief durch und sah auf mein Handy. Halb sieben. Plötzlich hörte ich ein leises Räuspern hinter mir. Ich wandte mich um und sah Jake ins Gesicht. Er hatte sich auch fertig gemacht. Eine schwarze Hose, ein weißes Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte und er hatte sich die Haare gestylt. Er sah einfach gut aus. Nahezu perfekt. Meine Augen waren weit aufgerissen, und plötzlich strahlten sie. Jake sah mir in die Augen und schwieg verlegen, dann biss er sich auf die Unterlippe. Er sah so süß dabei aus, ich hätte ihn am liebsten umarmt, aber eigentlich kannte ich ihn doch kaum. Außerdem wäre das Körperkontakt. Also böse.
„Du... siehst echt toll aus, Cathy.", meinte er schließlich leise. Ich lächelte und spürte, wie ich rot anlief.
„Du... auch.", murmelte ich und setzte mich wieder auf das Sofa. Er setzte sich zu mir und sah mich an.
„Du siehst... so unschuldig aus. Wie ein Engel.", meinte er leise. Ich lächelte. Und schon war der erste auf den Schein reinfällt. Ich überlegte kurz.
„Sag mal... Wie kommt es eigentlich, dass ihr so ein riesiges Haus habt? Ich meine... wir haben kein so großes Haus...", murmelte ich.
„Ich hab's von meinem Vater geerbt. Er hat es gebaut und mir überschrieben. Vor... einem halben Jahr ist er gestorben. Seit dem lebt meine Mutter auch hier. Die beiden hatten sich getrennt. Ich hab hier bei Dad gewohnt, und als er eben nicht mehr da war, musste Mom hier einziehen.", erklärte er und starrte auf den Boden. Ich riss die Augen weit auf und sah ihn mit traurigen Augen an.
„Das tut mir leid.", murmelte ich leise. Meine Hand lag auf dem Sofa, neben seiner, und für einen Augenblick hatte ich das verlangen, nach seiner zu greifen. Doch irgendwie schaffte ich es nicht. Ich kannte ihn kaum... Körperkontakt...
„Ist schon okay. Und... also, und bei dir? Ich meine... Wie kommt es, dass man von New York nach Detroit zieht?", fragte er leise und sah mich an. Ich blickte auf und sah ihm in die Augen.
„Woher weißt du, dass wir mal in New York gelebt haben?", fragte ich.
„Hat Mom mir erzählt."
„Naja... Ich war damals erst fünf Jahre alt. Meine Mom und mein Dad stritten sich immer ziemlich heftig, und dann irgendwann nahm meine Mutter mich und wir verschwanden. Auch wenn ich damals nicht weg wollte. Aber ich hatte noch nichts zu sagen, was auch irgendwie logisch war. Wir sind in New York umhergezogen erst einmal, ich wurde älter. Und als ich zehn war, machte meine Mutter den ersten Suizidversuch. Dann kam sie eben in diese Gruppe und dann wurde alles besser. Doch als ich vierzehn war kamen immer Drohanrufe und Briefe von meinem Vater. Dann verschwanden wir zusammen nach Detroit. Ich muss ehrlich sein, ich fühle mich nicht so ganz wohl mit dem Gedanken hier in New York zu sein. Ich weiß schließlich nicht, was mit Dad passiert ist, und ob er es nur auf Mom oder auch auf mich abgesehen hatte damals, und...", ich hielt inne und schwieg. Nun war es an mir, den Boden anzustarren. Meine Hand lag immer noch neben der von Jake. Er schien das gleiche Problem zu haben, wie ich. Wir kannten uns kaum. Da konnte er doch nicht einfach meine Hand nehmen.
„Das ist auch nicht so schön... Aber du brauchst keine Angst zu haben, Cathy. Hier wird dir nichts passieren. Okay?", meinte er schließlich. Ich sah auf und sah seine Augen, die mir Zuversichtlichkeit gaben, und sein aufmunterndes Lächeln, das mir ein angenehmes Gefühl hab.
„Okay.", hauchte ich leise.
„Irgendwie... glaube ich aber, das war nicht alles, was dir so passiert ist. Ich habe das Gefühl, du bist... irgendwie in dich gekehrt. Ganz extrem. Und ich kenne ein Mädchen, das ist genau wie du. Und ihr ist etwas schreckliches passiert. Aber... naja, ich werde dir zuhören, wenn du mit mir reden möchtest, und deine Gedanken und Gefühle loswerden willst, ja?", meinte er. Ich starrte ihn an. Wie... Woher...?! Wie konnte er das wissen? War er so ein guter Menschenkenner? Ich nickte nur. Vielleicht irgendwann. Aber noch nicht jetzt. Nicht heute.
„Also, Themawechsel. Heute Abend, die Feier, die ist eigentlich keine richtige Feier. Es ist mehr ein Ball. Das war die Idee meiner Mutter.", meinte er grinsend. Ich lachte und sah ihn mit strahlenden Augen an.
„Ihr habt einen Ballsaal?", fragte ich. Er nickte.
„Ja, wir haben ihn sehr weihnachtlich geschmückt. Fast wie in Harry Potter.", lächelte er. Meine Augen funkelten. Das war ein Traum. Ich wollte schon immer mal auf einen Ball gehen, tanzen und vielleicht sogar eine Märchenprinzessin sein. Aber eines stand mir im Weg. Ich konnte niemanden anrühren, und mich nicht anrühren lassen. Unwillkürlich strömten mir dann unendlich viele Bilder durch den Kopf, die ich zum Teil nicht zuordnen konnte, und die mich zum Teil an diese eine Nacht erinnerten, in der ich meine Unschuld verloren hatte. Ungewollt verloren.
„Wahnsinn!", hauchte ich.
„Möchtest... du dann vielleicht... nachher mit mir tanzen?", fragte er. Er biss sich wieder auf die Unterlippe. Ich lief rot an und sah verlegen zur Seite.
„Also... theoretisch ja. Aber... ich muss dir dazu nun doch etwas gestehen. Ich... hab Angst davor, mit Menschen Körperkontakt zu haben. Egal an welcher Stelle, deswegen habe ich euch heute Mittag auch die Hand nicht gegeben. Ich... ehm... also... Mir ist wirklich mal etwas schlimmes passiert. Aber... ich habe es nie jemandem erzählt, und eigentlich... wollte ich es auch nicht erzählen. Aber... naja, jetzt ist es auch egal. Als ich fünfzehn war, bin ich vergewaltigt worden. Seit dem bekomme ich Panik wenn mich jemand anfasst. Selbst wenn es nur die Hand ist. Niemand wusste warum. Naja, jetzt weißt du es.", flüsterte ich. Ich spürte, wie sich die Tränen in meinen Augen sammelten. Schnell blinzelte ich sie weg. Ich wollte meine Schminke nicht verschmieren. Auch wenn meine Laune jetzt ohnehin im Keller war. Jake sah mich traurig an.
„Okay. Jetzt verstehe ich. Aber... Naja, ich hatte eben so das Gefühl, dass du meine Hand nehmen wolltest. Und... ich wollte auch deine nehmen, aber ich hab mich nicht getraut. Meinst du nicht, wenn du etwas vom Gefühl her machen möchtest, ist es gut?", fragte er leise. Ich sah ihn an, in meinen Augen konnte man einen leisen Hoffnungsschimmer erkennen.
„Ich... weiß nicht. Ich hab... schon lange keinen Körperkontakt mehr mit einem Menschen gehabt. Zwei Jahre.", meinte ich leise. Er sah mich an. Dieser Blick... einfach atemberaubend.
„Vielleicht... solltest du es einfach mal ausprobieren?", meinte er leise. Ich nickte nur. Seine Augen hatten mich in ihrem Bann, ich war wie in Trance. Dann spürte ich, wie er seine Hand sanft auf meine legte, sie umfasste und ein wenig drückte. Augenblicklich spürte ich ein warmes Kribbeln, es kam von dieser Hand und zog sich meinen ganzen Arm hinauf, breitete sich in meinem Bauch aus. Ich begann zu lächeln. Dann rückte ich, wie als würde mich ein Geist schieben, ein kleines Stück näher zu ihm hin und sah ihm einfach weiter in die Augen. Er sagte ebenfalls nichts, lächelte. Spürte er dieses Kribbeln auch? Ich wusste es nicht. Schließlich stand er auf und zog mich mit sich. Dann stellte er sich nah vor mich, wie als würde er mit mir tanzen. Seine Hand berührte meine Taille, ganz sanft nur, und meine Hand legte sich auf seine Schulter. Wie selbstverständlich. Die anderen beiden Hände hielten sich immer noch fest, unsere Finger hatten sich mittlerweile verschränkt. So standen wir eine Weile da. Dann begann er sich zu bewegen, Schritt für Schritt. Wir tanzten, ohne Musik. Und es war trotzdem toll. Einfach wundervoll. Das warme Kribbeln hatte sich in meinem kompletten Körper ausgebreitet. Ich konnte nicht aufhören zu Lächeln. Auch er lächelte durchgehend. Dann hörten wir die Klingel, und er ließ langsam von mir ab.
„Die Gäste kommen. Wollen wir?", fragte er und bot mir seinen Arm. Ich hakte mich unter und nickte. Immer noch lächelnd. Zusammen gingen wir dann die Treppen hinab, ich sah viele Menschen, viele kleine Kinder, aber auch einige in meinem Alter. Zwei Mädchen und ein weiterer Junge. Jake schien die drei zu kennen. Er warf mir einen Blick zu, dann gingen wir zusammen zu den drei Neuankömmlingen.
„Hey.", meinte Jake und nickte den dreien zu. Ich lächelte unsicher und murmelte auch ein leises Hallo. Jake sah mich an und lächelte.
„Leute, das hier ist Cathy. Cathy, das sind Lucas, Emma und Miri.", stellte Jake uns vor. Und das war der Beginn des Abends.


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