Die Kirche

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Ich starrte kurz auf mein Handy, und dann nahm ich ab.
„Ha... Hallo?", fragte ich leise.
„Hallo Cathrine. Schön, deine Stimme zu hören. Du bist groß geworden. Ich freue mich schon, dich bald zu sehen."
„Wer ist da?!", rief ich panisch.
„Erkennst du mich nicht mehr? Du nanntest mich mal Daddy, weiß du noch?"
„Was hast du mit Mom gemacht?!", fragte ich und meine Stimme klang eine Oktave höher.
„Sie ist hier, bei mir. Willst du sie wieder haben?"
„Ja!", rief ich verzweifelt und begann zu weinen. Was wollte er nur von mir?
„Dann komm zur alten Kirche in Manhattan. Du bist ja schon fast da, wenn du am Weihnachtsmarkt bist."
„Ich komme. Aber tu Mom nichts, sie... sie hat dir auch nichts getan."
„Gut."
Die Verbindung brach ab.
„Wo kommst du hin?", fragte Jake leise.
„Alte Kirche. Jetzt. Er hat meine Mom.", sagte ich entschlossen und wischte mir die Tränen weg.
„Ich... komme mit."
„Nein, Jake."
„Doch. Ich lasse dich nicht alleine."
„Jake... Ich denke, es ist besser, wenn wir von hier an... nicht mehr zusammen sind. Ich glaube, ich bringe dich nur in Schwierigkeiten. Und vermutlich werde ich nachher sowieso draufgehen, also...", murmelte ich leise und spürte wieder, wie die Tränen sich anbahnten. Jake starrte mich ungläubig an.
„Ich... lasse dich nicht alleine. Nein. Ob wir jetzt... zusammen sind, oder nicht. Ich lasse dich nicht alleine, ich hab das mit Kevin geregelt und ich werde dich jetzt auch nicht im Stich lassen, hast du mich verstanden?"
Nun war es an mir, ungläubig dreinzublicken. Ich nickte nur. Dann lief ich los, ich konnte den Kirchturm schon sehen. Ich rannte einfach darauf zu und blieb plötzlich stehen. Jake kam kurz nach mir an und blieb auch stehen. Was, wenn das alles nur eine Falle war? Ich konnte es nicht wissen, vielleicht war Mom auch bei Jakes Mutter...?
„Jake... Das hier könnte auch nur eine Falle sein, um an mich ranzukommen. Weißt du das?", fragte ich leise. Er nickte nur. Ich atmete tief durch, dann ging ich langsam weiter. Neben der Kirche war ein großer, düsterer Friedhof, und es schien als würde es hier irgendwie spuken. Auch wenn ich nicht an Geistergeschichten glaubte, aber in diesem Moment schien es mir, als könnte einfach alles real werden. Erst diese Geisterstadt, oder vielmehr das Geisterdorf, weil eigentlich nur ein Teil von Manhattan total menschenleer war, was ich allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste. Genauso wie das, was nun auf mich zukam. Die Kirche war groß und im tristen Licht der Sterne wirkte sie irgendwie bedrohlich. Und allein der Gedanke daran, was mich in der Kirche erwartete, ließ schon alles fünfmal bedrohlicher wirken, als es eigentlich war. Wieder blieb ich stehen, diesmal in der Nähe des Friedhofstores. Ich stand einfach nur da und lauschte. Es war verdammt still... totenstill. Ich hasste dieses Gefühl der Leere, die sich in diesem Moment in mir ausbreitete. Plötzlich vibrierte mein Handy wieder. Ich nahm es und las die Nachricht, die ich erhalten hatte.

Du hast nicht mehr viel Zeit, Cathrine. Denk daran, es geht um deine Mutter.

Ich erstarrte. Dann begann ich wieder zu rennen und blieb erst vor dem großen Tor der Kirche stehen. Jake war dicht hinter mir und ich schob schnell die Tür auf. Quietschend öffnete sie sich und ich trat ein. Meine Schritte hallten auf dem glatten Steinboden wider und es klang ein wenig so, als wäre ich ganz alleine. Was nicht stimmte, das wusste ich ganz genau. Jake und ich traten ein und gingen ein paar Schritte zwischen den Bankreihen hindurch. Der Raum war von Kerzen erleuchtet, die vorne auf dem Altar standen und brannten. Jemand musste sie angezündet haben. Ich ging ein Stück weiter, Jake folgte mir sofort. Mir war nicht wohl bei der Sache, ich spürte, dass irgendwas ganz und gar nicht stimmte. Und aus irgendeinem Grund fand ich, dass es in dieser Kirche irgendwie... komisch roch. Nach... Tod. Warum wusste ich selbst nicht. Ich drehte mich um und erstarrte. Über den Sitzplätzen war ein kleiner Vorsprung, vermutlich war dort der Raum, wo der Pastor immer herkam vor einer Messe und nach der Messe wieder hin ging. Jedenfalls stand dort ein großer Mann, mit grau-braunem Haar und einem irren Grinsen im Gesicht. Das war er. Mein Vater! In genau diesem Moment schämte ich mich erst einmal, dass ich mit dieser Person verwandt war. Dann, nach einigen Sekunden bemerkte ich erst, dass er noch jemanden bei sich hatte. Meine Mutter stand neben ihm, sie hatte einen Knebel im Mund und ihre Hände waren an das Geländer gefesselt. Sie weinte bitterlich, und bei diesem Anblick stiegen mir auch sofort die Tränen in die Augen. Das schlimmste, was es auf der Welt für mich gab, war es andere Leute weinen zu sehen. Ich konnte das einfach nicht. Auf den Armen trug der Mann, der sich mein Vater nannte, einen großen Leinensack, in dem etwas schweres drin zu sein schien. Und schließlich begann er auch zu sprechen.
„Oh, du bist endlich gekommen, Cathrine. Und deinen Freund hast du auch mitgebracht, wie schön. Dann können wir doch so richtig beginnen, nicht wahr?", meinte er. Seine Stimme klang... dem Wahnsinn verdammt nahe. Sie war so verzerrt und irgendwie... seltsam. Irre. Ein klirrendes Kichern schallerte durch die Kirche, und ich zuckte zusammen. Das schlechte Gefühl in meinem Magen breitete sich in meinem ganzen Körper aus, und ich wollte nun unbedingt wissen, was in diesem Leinensack war. Und wo war überhaupt Jakes Mutter, wenn sie nicht zuhause und nicht auf dem Markt war? Und alle anderen Menschen in dem kleinen Wohnviertel von Manhattan? Sie konnten doch nicht einfach so verschwunden sein, oder etwa doch? Durch meinen Kopf schossen mehrere Gedanken gleichzeitig. Warum waren unsere Mütter überhaupt weggegangen? Wieso hat sich meine Mutter nicht um mich gekümmert, nachdem ich von Kevin wieder einmal vergewaltigt worden war? Warum hatte sie damals nichts davon bemerkt? Und wo war Kevin jetzt überhaupt? Fragen über Fragen die sich in meinem Kopf stapelten, und auf die ich keine Antwort hatte. Ich wusste ja nicht einmal, was hier geschah. Der Mann schien sichtlich erfreut über meinen Schock, und begann wieder zu lachen.
„Ach, Cathrine, ist dir etwa alles zu viel?", kicherte er.
„Lass meine Mom gehen!", schrie ich plötzlich. Er zuckte zusammen und starrte mich verdutzt an.
„Nein.", sagte er nur.
„Wie, nein!? Du hast gesagt, wenn ich komme, lässt du sie gehen! Und überhaupt... was hast du mit den ganzen Leuten gemacht, die hier im Wohnviertel leben!?"
„Nein einfach nur. Schon einmal was von Lügen gehört, kleine Maus?"
Ich begann zu weinen. Er hatte mich angelogen. Ich hätte es mir denken müssen. Mein Kopf drohte zu platzen, tausend Möglichkeiten ratterten darin herunter, wie ich an meine Mom kommen könnte und einfach wieder alles gerade biegen konnte.
„Eigentlich ist es ja alles deine Schuld, Cathrine.", sagte er plötzlich. Ich blickte nach oben und sah ihm fest in die Augen.
„Das stimmt nicht.", hauchte ich.
„Doch, es stimmt. Weißt du auch warum? Ganz einfach, du hättest damals einfach sagen sollen, was ich zu dir gesagt hab. Du hättest nicht deinen eigenen Kopf durchsetzen dürfen. Das hast du jetzt davon. Du hast dein eigenes Leben zerstört, und auch noch das von deinem Freund.", rief er. Ich starrte ihn verwirrt an, doch bevor ich etwas sagen konnte, warf der Mann den Leinensack von dem Vorsprung herunter. Mit einem dumpfen Knall landete er auf dem Boden, und plötzlich wurde mir speiübel. Ich hatte das Gefühl, zu wissen, was jetzt gleich kommen würde, doch ich wollte es nicht wahr haben. Jake und ich gingen langsam zu dem Sack hin, und ich sah schon von weitem einen großen, roten Fleck der sich durch den weißen Stoff fraß. Blut. Ich ging vor dem blutigen Sack in die Knie und öffnete die Schlaufe mit zitternden Händen. Jake kniete neben mir und starrte wie gebannt auf meine Hand. Ich zog den Stoff zurück, vorsichtig, als könnte ich etwas kaputt machen, und augenblicklich drehte sich mir der Magen um. Ich drehte mich weg und übergab mich zwischen zwei der Kirchenbänke. In dem Sack war eine Frau, sie hatte rot-braune Haare und ihr Blick war... starr. Schreckgeweitet starrten die Augen in die Luft, aus dem schönen, etwas verrücktem Blau war ein milchiges Weiß geworden. Anna! Jakes Mutter! Ich begann zu weinen, und Jake schluchzte auch leise. Dann fluchte er lauthals und sprang auf.
„Warum tust du das?!", schrie er durch die ganze Kirche, doch er war weg. Und mit ihm meine Mutter. Er hatte die Zeit des Schocks genutzt, um abzuhauen! Ich stand auf, meine Knie zitterten. Was sollten wir jetzt nur tun? Was sollte ich jetzt nur tun? Er hatte Jakes Mutter getötet! Und das alles nur, weil sie auf diesen dämlichen Markt gegangen waren. Jake hörte plötzlich auf zu fluchen und ich sah aus dem Augenwinkel heraus, wie er etwas aus dem weit geöffneten Mund seiner Mutter zog... Ein Zettel? Ich drehte mich um und waft einen Blick darauf.

Wenn die beiden bessere Mütter wären, wäre unsere liebe Anna jetzt noch am Leben, und deine Mutter wäre nun bei dir, Cathrine.

Mir stockte der Atem und ich ging wieder in die Knie. Ich konnte nicht mehr. Was wollte er nur von mir? Was? Jake half mir aufstehen und nun standen wir erst einmal eine Weile hier in dieser Kirche. Ich überlegte fieberhaft, was wir als nächstes tun sollten, da zückte Jake schon sein Handy und rief die Polizei an. Zehn Minuten später waren schon zwei Polizisten, ein Krankenwagen und ein Feuerwehrauto angekommen. Sie brachten die Leiche weg, und die Polizisten nahmen uns mit auf die Polizeistelle. Dort wurden wir beide, jeder einzeln, vernommen und unsere Aussagen wurden protokolliert. Ich hatte solche Angst wie noch nie zuvor in meinem Leben. Und ich fragte mich, was dieser Mann dachte? Was war sein Ziel? Mein Leben zerstören? Das hatte er doch bereits geschafft! Mich töten? Wenn er das tun wollte, dann hätte er es schon längst geschafft!

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