Ein Tag, an dem nichts geschah

0 0 0
                                    

Ich legte mich auf Jakes Bett und schloss die Augen. Auch wenn ich mehr als 24 Stunden außer Gefecht gesetzt war, war ich irgendwie todmüde. Aber schlafen wollte ich auch nicht. Ich sah Jake heute das letzte Mal für die nächsten paar Wochen. Ich sah zu ihm hinüber und streckte meine Hand nach ihm aus.
„Komm her, Jake.", murmelte ich mit kindlicher Stimme und lächelte, als er zu mir kam und meine Hand nahm. Ich zog ihn zu mir ins Bett und kuschelte mich an ihn.
„Wollen wir einen Film schauen?", fragte ich leise. Er sah mich überrascht an.
„Wenn du möchtest. Welchen denn?"
„Hmm... Welche hast du denn?"
„Alles mögliche... Sag was, dann sag ich dir, ob ich's hab oder nicht."
„Also... From Hell?", schlug ich vor.
„Der mit Johnny Depp? In dem es um Jack the Ripper geht?", fragte Jake. Ich nickte freudig.
„Ja, den hab ich. Moment, ich mach ihn rein, dann können wir uns ausruhen.", meinte er lächelnd. Auch ich lächelte. Ich war froh, dass Jake nun wieder normal war. Nicht mehr so... selbstmitleidig.
„Juhu.", freute ich mich. Als der Vorspann begann, legte er sich schnell wieder zu mir und ich kuschelte mich an ihn. Dann folgte ich dem Film eine Weile, bis meine Gedanken wieder abschweiften. Was würde morgen passieren? Also, hieß es Abschied nehmen? Wir hatten gar keine Zeit gehabt, um darüber nachzudenken, was wir tun wollten. Ob wir zusammen bleiben wollten, oder warteten. Oder ob er mit nach Detroit kam. Wir hatten einfach keine Ahnung von gar nichts, und so wie ich das sehen konnte, würde das morgen dann so aussehen, dass ich in den Flieger stieg und wir beide einfach nur noch eine Fernbeziehung führen würden, für eine Zeit lang, bis wir beide es nicht mehr ertragen konnten. Und diesen Gedanken konnte ich nun nicht ertragen. Mir lief eine Träne die Wange herunter, ich hielt die Luft an, um nicht zu schluchzen. Doch Jake bemerkte, dass etwas nicht in Ordnung war und sah mich an.
„Cathy... Ist alles okay? Was... ist los?", fragte er.
„Es... ist wegen morgen. Du... ich... Ich... weiß nicht, wie es dann weitergehen wird und... dieser Gedanke treibt mich in den Wahnsinn...", krächzte ich. Meine Stimme war irgendwie weg. Ich wusste nicht wieso. Vielleicht wegen der Aufregung. Jake sah mich an und wandte den Blick ab.
„Ja, darüber mache ich mir auch die ganze Zeit schon Gedanken."
„Und... wie machen wir's?"
„Ich... weiß nicht. Ich könnte theoretisch mitkommen, aber... naja, ich weiß nicht, was dann mit meiner Mom wäre."
„Ja."
Ich atmete tief durch. Das war's dann wohl. Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder, um mich auf den Film zu konzentrieren. War jedenfalls besser, als jetzt Trübsal zu blasen. Vielleicht überlegte er es sich ja noch anders. Obwohl ich es bezweifelte, denn es könnte ja genauso gut sein, dass in zwei Tagen alles aus war, und er umsonst mit nach Detroit gekommen war. Wer konnte das schon wissen? Ich jedenfalls nicht, und ich war jetzt im Moment einfach nur froh, dass ich hier mit Jake war, kein Kevin und kein Vater, der mich töten wollte. Das einzige, was mich nervte, war die Prellung an meinem Bauch, wo immer die herkam.
„Cathy?"
Ich sah Jake an und neigte den Kopf.
„Ja?"
„Vielleicht... könnten wir es so machen, dass du morgen heim fährst, und ich dann am Wochenende mal zu dir komme, und wir über Handy in Kontakt bleiben. Erst mal. Bis sich der ganze Schock mit Kevin und so gelegt hat. Und bis wir beide wissen, ob wir es wirklich wollen. Also... zusammen bleiben. Nicht, dass ich mit nach Detroit komme und dann nach zwei oder drei Tagen Schluss ist."
Konnte er Gedanken lesen? Ich nickte.
„Ja, okay.", murmelte ich. Ich konzentrierte mich wieder auf den Film, doch ich schlief mitten drin wieder ein. Aber diesmal träumte ich nichts mehr.
Piep. Piep. Piep.
Ich wachte durch meinen SMS-Ton auf. Ich sah auf mein Handy und hob die Augenbraue. Unbekannte Nummer. Okay. Ich öffnete die Nachricht und las sie schnell durch. Beim ersten Man verstand ich den Sinn noch nicht. Ich musste sie mehrmals durchlesen, bis ich verstand, was hier gespielt wurde.

Ich werde dich kriegen, kleine Maus, und wenn ich dich habe, dann werde ich dich töten. Damit du das bekommst, was du verdienst. Kleine verräterische Maus.

Was!?! Was!?! WAS!?! Warum? Wer wollte mir so etwas antun? Was hatte ich so schlimmes getan?! Jake bemerkte mein Unwohlsein und sah mich an.
„Was ist los?"
Wortlos reichte ich ihm mein Handy und er las es ebenfalls. Mehrmals. Dann starrte er mich verwirrt an.
„Wer ist das?", fragte er.
„Woher soll ich das wissen?"
„Schreib zurück."
„Nein!"
„Warum?"
„Das kann ich nicht machen. Er hat meine Nummer. Er... er... er weiß, dass ich in Manhattan bin. Er hat sich die letzten 12 Jahre nicht gemeldet.", hauchte ich.
„Du denkst, es ist dein Vater?", fragte Jake. Ich nickte nur.
„Ich bin mir sicher."
„Warum?"
„Düstere Vorahnungen in Träumen. Schon mal gehört?"
„Ja..."
„Also... Ich bin mir sicher. Wieso sollte ich sonst plötzlich den ganzen Mist träumen?"
Jake senkte den Blick und seufzte.
„Du hast recht.", meinte er. Wir schwiegen nun beide und schauten uns den ganzen Tag Filme an. Wir warteten, bis unsere Eltern heimkamen. Also unsere Mütter. Doch irgendwie... kam niemand. Was war hier los? Vielleicht blieben sie ja irgendwo über Nacht, aber das hätten sie uns doch gesagt, oder nicht? Vielleicht war ihnen auch etwas zugestoßen? Es war bereits zehn Uhr abends, sie wollten schon lange zurück sein.
„Jake, wo ist der Weihnachtsmarkt?", fragte ich schließlich.
„Nicht weit von hier.", antwortete er leise.
„Wir gehen schauen. Ich muss wissen, ob etwas passiert ist.", verlangte ich. Jake nickte nur und zog sich eine Jeans an, ich tat das gleiche. Bis jetzt hatte ich nur meine Schlafklamotten angehabt und er eine Jogginghose. Wir verließen das Haus und gingen einige Schritte durch die Dunkelheit, bis mir etwas auffiel. Die Straßen waren wie leergefegt. Was ging hier nur vor sich? Ich spürte, wie mein Handy in der Hosentasche vibrierte. Ich zog es hervor und starrte ungläubig auf den Display.

Ich werde dich bekommen, so wie ich deine Mutter bekommen habe, Cathrine.

„Jake!", schrie ich plötzlich. Er wirbelte umher und starrte mich an.
„Was?", rief er erschrocken.
„Da!", murmelte ich und hielt ihm mein Handy hin. Ihm stockte der Atem.
„Oh, fuck...", murmelte er, und dann nahm er mich an der Hand und wir rannten gemeinsam die Straßen entlang, bis zu dem Platz, an dem der Weihnachtsmarkt war. Auch der war menschenleer. Keine Seele war da. Nur ein kleiner Hund lief winselnd umher und suchte vermutlich nach seinem Besitzer. Mir liefen unwillkürlich Tränen die Wangen hinab und ich ging in die Knie.
„Was passiert hier?", wimmerte ich leise. Jake zog mich auf die Beine.
„Ich weiß es nicht."
So standen wir eine Weile da, bis mein Handy zu klingeln begann. Ein Anruf.

GeisterdorfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt