Begegnung im Zug

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Das gelbliche, rostbraune und orangefarbene, langsam abfallende Laub der Bäume rauschte vorbei, während die Regentropfen die Fensterscheiben hinunterrutschten. Ich saß im Zug von Hamburg nach London. Zwei Plätze hinter mir schnurrte eine ältere Dame friedlich, auf der anderen Seite weinte ein kleines Kind, weil es Hunger hatte. Die Eltern versuchten zu erklären, dass es gleich nach der Ankunft etwas zu essen bekäme, daraufhin beruhigte sich das Kind und die Eltern entschuldigten sich bei den anderen Gästen für den Lärm.

Ich hörte mit Kopfhörern Musik und lehnte mich dabei an die Fensterscheibe, um nach draußen zu schauen. Nach ein paar Stationen kamen mehrere Menschen hinzu, die Eltern mit dem Kind stiegen aus. Sie verteilten sich und ein Junge in meinem Alter kam in Richtung meines Sitzplatzes, der Platz neben mir war frei. Der Junge schaute von der Nummer des Sitzes in einen Zettel, den er in der Hand hielt. „Dein Platz?", fragte ich. Er nickte und ich stellte daraufhin meinen Rucksack auf den Boden. „Danke", sagte er und setzte sich. „Hi, ich bin Jack", stellte er sich vor. „Rose, freut mich sehr", entgegnete ich. Er hatte ein schönes Lächeln und ein Strahlen in den Augen, dass ihn sofort sympathisch machte.

Eine Weile schwiegen wir, dann fragte er, wohin es für mich ginge. Ich erzählte von meinem Auslandsemester in London und dass ich meine Schwester besuchen würde, die dort seit ein paar Jahren lebte. Er schien sehr interessiert zu sein, sodass ich ihn ebenfalls nach seinem Ziel fragte. Er erzählte, dass er ebenfalls zum Studieren dort sein würde, dass er als Kind schonmal dort gewesen sei und es liebte. Wir redeten über unser Studium und darüber, warum wir ausgerechnet London ausgesucht hatten. Jack war sehr offen und bei der langen Fahrt konnten wir über viele Dinge reden. Er war ein guter Gesprächspartner und ich genoss seine Gesellschaft sehr.

Der Zug war alt, aber wunderschön, mit roten Stoffsitzen, Holzrahmen und gemusterten Vorhängen. Ich merkte kaum, wie schnell die Zeit verging, es war, als wäre sie stehen geblieben. „Rose...", Jack räusperte sich, „Ich hatte noch nie mit jemandem so eine schöne Unterhaltung, wie mit dir!" Ich musste lächeln. „Mir geht es genauso.", entgegnete ich und lächelte nochmals. Wir kannten uns gar nicht und konnten einfach so über alles reden.

Das war wunderschön. Er erzählte mir davon, dass seine Freundin ihn verlassen hatte und er dankbar dafür sei, sie jetzt ein paar Monate nicht sehen zu müssen. Ich erzählte ihm, dass ich mich freute, meine Schwester wiederzusehen und die Stadt zu besichtigen, in der sich meine Eltern kennengelernt haben. 15 1/2 Stunden Fahrt gaben uns die einzigartige Möglichkeit, einander richtig gut kennenzulernen. Ich hatte noch nie einem Menschen so viel von mir erzählt, aber es fühlte sich absolut richtig an. Auch Jack betonte mehrmals „das weiß sonst niemand". Irgendwann schlief ich an seiner Schulter ein, als ich wieder aufwachte, war Jack verschwunden.

Ich realisierte nach und nach, dass ich geträumt hatte, es wäre zu schön gewesen, einmal mit jemandem über wirklich alles reden zu können. Das hätte ich im echten Leben gar nicht gekonnt, ich war viel zu schüchtern. Außerdem hätte ich Angst, vor Verurteilung. Während ich mich aufrichtete, hörte ich eine männliche Stimme: „Hi, ich bin Jack. Darf ich mich setzen?"

ENDE


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