Kapitel 15 - Enttäschung

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„Nana..." Luc sprang direkt in Nahlas Arme, als er sie am Türrahmen des Wohnzimmers bemerkte. Er hatte bereits seine Pyjamas angezogen und blickte seine Schwester freudig an mit seinen süßen Kulleraugen. Nahla strich ihm über die samtweiche Wange und setzte einen Kuss auf seine Halsbeuge, während sie seinen wundervollen Duft einatmete. Ihr kleiner Prinz... „Wie geht es dir mein Schatz?", fragte sie ihn und drückte seinen kleinen Körper an sich. Lucio spielte mit ihren Haarspitzen, während er auf Nahlas Frage antwortete. „Gut", sagte er und zog dabei das Wort in die Länge. Sie ging mit ihm zur Couch und grüßte dabei Mrs. Davis. „War mein Prinz heute brav, Mrs. Davis?", fragte sie die alte Dame freundlich, nachdem sie sich neben sie hingesetzt hatte. Luc hatte derweil sein Kopf an Nahlas Brust gelegt und wickelte immer noch ihre Haare um seine kleinen Finger. Er war müde, wie sie bemerkte. „Aber natürlich. Lucio ist ein tolles Kerlchen. Wir haben zusammen gespielt und hatten richtig Spaß zusammen."
„Das freut mich. Vielen Dank nochmal, dass sie auf ihn aufpassen, Mrs. Davis. Ich weiß, es war sehr kurzfristig aber-"
„Ach Schätzchen. Ich will sowas gar nicht hören. Ich mache das sehr gerne, wirklich. Zuhause hatte ich nur die Zeit totgeschlagen. Jetzt kann ich meine Zeit mit diesem hübschen Burschen verbringen. Er versüßt mir den Tag." Nahla lächelte auf ihre Aussage. „Ach übrigens, habe ich einen Kartoffel-Paprika Eintopf für euch gekocht und dazu etwas Reis. Salat steht auch noch auf der Arbeitsfläche. Lucio habe ich schon was zu essen gegeben und ihm hat es geschmeckt. Er müsste pappsatt sein." Nickend schüttelte Mrs. Davis ihren hellblonden Schopf, so als würde sie ihre Worte nochmal bestätigen. „Das wäre doch gar nicht nötig gewesen. Vielen Dank." Nahla hatte absolut keinen Appetit, obwohl sie seit heute Mittag nichts gegessen hatte.
„Hör auf dich ständig zu bedanken, sonst werde ich noch sauer. Auf der Arbeitsfläche stehen auch noch die Kekse, die du und Miguel früher immer so sehr mochten. Keine Sorge ich habe Lucio nur zwei Stück gegeben und etwas Milch dazu. Deswegen könnte dein Prinz nun etwas müde sein, weshalb er auch ein wenig quengelig wurde, da er ja anscheinend nur mit seiner Schwester zusammen einschläft." Sie war so wundervoll. „So, ich mache mich jetzt mal auf den Weg nach Hause. Wir sehen uns morgen früh. Wenn was ist, ruf mich ja an." Nahla begleitete Mrs. Davis noch zur Tür und Lucio winkte ihr sogar zum Abschied. Sie schienen sich echt gut verstanden zu haben. Das freute Nahla. Sie wandte sich an ihren Bruder und stieg mit ihm vorsichtig die Treppen nach oben, während sie ihn auf den Armen trug. „Sollen wir schlafen gehen, mein Prinz?" Lucio nickte, aber blickte gleichzeitig seine Schwester bittend an. „Liest du mir eine Geschichte?"
„Hm.. mal überlegen. Wenn du mir einen Kuss gibst, dann könnte ich dir etwas vorlesen. Aber einen richtig großen Kuss." Lucio kicherte und schlang seine kurzen Arme um Nahlas Hals, bevor er seine Lippen auf ihre Wange drückte und einen lauten Kuss hinterließ. „Hm.. ich bin erst zufrieden, wenn du mich auch auf die andere Wange küsst." Er tat das gleiche nun mit der linken Wange und Nahla lächelte ihn an. „Perfekt. Jetzt könnte ich dir etwas von Baby Bunny vorlesen. Na, wie wärs?" Lucio klatschte in die Hände und zeigte somit seine Begeisterung. Sie setzte ihn auf ihr gemeinsames Bett und zog sich schnell ihre eigenen Pyjamas an. Bevor sie nochmal zu Bett ging, holte sie ihr Handy aus ihrer Handtasche und rufte Miguel an. Ihre Gedanken kreisten die ganze Zeit nur um ihn. Wo steckte er? Was tat er? Er hätte längst zu Hause sein sollen. Wo trieb er sich nur rum? Ihr Anruf wurde nicht entgegengenommen. Es erklang nur die Mailbox. Ihre Sorge um ihn, brachte sie beinahe um den Verstand. Sie legte ihr Handy auf die Kommode neben ihrem Bett, schaltete die Nachttischlampe ein  und schlüpfte unter die Decke mit Lucio, der sie schon erwartungsvoll musterte. Während Nahla ihren Bruder an ihre Brust zog, so dass er mit dem Rücken gegen sie lehnte, wickelte sie einen Arm um seinen kleinen Körper und mit dem anderen Arm hielt sie das Kinderbuch aufrecht, das bereits auf der Kommode lag. Sie fing an zu lesen und nach zehn Minuten döste Lucio schon ein. Leise klappte sie das Buch zusammen und brachte ihren kleinen Bruder in eine bequemere Position. Er schlief seelenruhig. Es beruhigte Nahla ungemein ihn beim Schlafen zu beobachten. Seine winzigen Hände hielten sie immer fest. Entweder an der Hand, an ihrem T-Shirt oder an ihren Haaren. Immerzu wollte er sie spüren. Mit ihrem Handrücken strich Nahla lächelnd über seine Wange und gab ihm einen kleinen Kuss auf die leicht geöffneten Lippen. Seine Wimpern warfen ein Schatten unter seine Augen und sein Brustkorb hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Nahla würde alles für ihre Brüder tun. Sie waren ihr einziger Lebenssinn. Unten hörte sie plötzlich, wie jemand die Haustür öffnete. Miguel, schoss ihr durch den Kopf. Vorsichtig entfernte sie sich von Lucio und schloss die Schlafzimmertür hinter sich, nachdem sie noch einen letzten Blick auf ihren Bruder geworfen hatte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Treppen nach unten lief und in ihrer Faust die kleine Tüte mit den Pillen hielt. Sie musste mit ihm reden und sie war selbst nicht bereit dazu. Er war in der Küche und trank ein Glas Wasser. Nahl blieb im Türrahmen stehen und ließ ihren Blick auf ihm weilen, bis er sie bemerkte. Und das tat er nach ein paar Sekunden bereits. „Wo warst du?" Miguel stellte das Glas in das Waschbecken und wartete einige Sekunden, bis er mit der Antwort rausrückte.
„Bei einem Freund."
„Du hättest nach der Schule direkt nach Hause kommen sollen. Mrs. Davis hast du auch nicht Bescheid gegeben. Sie war bei Lucio bis ich gekommen bin."
„Ich bin müde, Nahla. Können wir das morgen besprechen?" Er machte Anstalten an ihr vorbeizulaufen, doch sie packte ihn am Arm und hielt ihn auf. Er wirkte wirklich müde und war etwas blass um die Nase. Doch Nahla war viel zu aufgebracht im Moment, als das sie seinen Zustand in Erwägung ziehen könnte. Sie wollte diese Drogensache mit ihm bereden und es ein für alle mal schließen. „Nein, können wir nicht. Miguel, wir müssen reden. Geh ins Wohnzimmer." Ihr Bruder blickte sie unsicher an, willigte allerdings mit einem Kopfnicken ein und begab sich ins Wohnzimmer. Er hatte wohl gemerkt, dass Widerworte nichts bringen. Nahla folgte ihm mit klopfendem Herzen. Er setzte sich langsam auf das Sofa und sie stellte sich vor ihm hin. Seine Blicke waren auf den Boden gerichtet. Ahnte er, worüber sie mit ihm reden wollte? „Kannst du mir bitte erklären, was das ist?" Sie holte ihre Faust hervor und öffnete ihre Finger, so dass Miguel sehen konnte, was sich in ihrer Handfläche befand. Er hob seinen Kopf und schaute auf die Tüte mit den Pillen. Nahla sah sofort, dass er den Atem anhielt. Er hatte es also nicht geahnt. „Woher hast du das?", hauchte er beinahe flüsternd. Ein enttäuschter Gesichtsausdruck zierte ihre Züge. Er hatte nicht gefragt, was das ist, sondern, woher sie das hatte. „Woher ich das habe? Meinst du etwa, dass das gerade das Problem ist?"
„Hast du in meinen Sachen geschnüffelt?" Nahla wurde zunehmendes schockierter. „Miguel, ist das dein Ernst? Wo zur Hölle kommen diese Drogen her? Nimmst du die selbst?" Er schwieg und guckte auf den Boden. Ihr Herz schlug bis zum Hals und ihre Hand zitterte. Warum antwortete er nicht. Sie konnte nicht verhindern, dass sie lauter wurde. „Ich habe dich etwas gefragt."
„Nein." Nahla atmete jetzt erleichtert durch und schluckte. „Warum hast du sie dann bei dir? Und auch noch so viele? Was machst du mit diesen Pillen?" Was würde sie nur tun, wenn er sagen würde, dass er sie verkaufte? „Frag mich nichts mehr."
„Was? Ist das dein verdammter Ernst?"
„Ja, Nahla, das ist mein Ernst. Gib mir diese Pillen und vergiss, was du gesehen hast."
„Miguel, wie kannst du nur so sprechen? Sag mir die Wahrheit. Du-", fing sie an und ihre Stimme brach von selber ab. „Verkaufst sie doch nicht, oder?" Die Hoffnung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Doch ihr Bruder antwortete ihr nicht. Er schaute auf den Boden und blieb einfach still. Kein Wort kam aus seinem Mund. Tränen liefen über Nahlas Gesicht. Sie ließ sich auf den Couchtisch sinken und blickte in das Gesicht ihres Bruders, der sie nicht einmal anschauen konnte. Er tat es also wirklich. Ihr Bruder verkaufte Drogen. „Miguel... Wieso?", hauchte sie mit zitternder Stimme. „Warum tust du das? Ist dir nicht klar, in welche Gefahr du dich damit begibst? Du könntest ins Gefängnis kommen."
Wieder antwortete er ihr nicht. Nur mit Mühe verkniff sie sich ein Schluchzen. Noch nie hatte sich Nahla so verzweifelt gefühlt. Sie verstand ihren Bruder nicht. Ja, sie hatten schwierige Zeiten hinter sich, aber Drogen verkaufen? Ihr Bruder, Miguel? Nicht im Traum hätte sie daran denken können. Er zerstörte sein Leben. Was wenn er erwischt wird? Drogen zu nehmen war eine Sache, doch es zu verkaufen nochmal eine andere. „Das wird aufhören, Miguel. Und zwar augenblicklich. Nach der Schule wirst du sofort nach Hause kommen und ich will, dass du keinen Kontakt mehr zu deinem Freund Rio hast." Sie wischte sich die Tränen weg und schaute ihn mit einem ernsten Ausdruck an. Sie musste sich sammeln. „Ich bin alt genug, um selber zu entscheiden, mit wem ich befreundet bin oder nicht."
„Alt genug? Du hättest auch alt genug sein sollen, um zu wissen, dass du deine Finger von Drogen lassen sollst aber anscheinend bist du das nicht."
Miguel entriss ihr plötzlich die Tüte aus den Händen und schaute seine Schwester mit zusammengekniffenen Augenbrauen an. „Vergiss einfach, dass du das gesehen hast. Sonst wird alles schlimmer." Nahla stockte und sah ihm ungläubig hinterher, wie er aus dem Wohnzimmer verschwand.  Sie lief ihm hinterher. Er hatte das Geländer fest umgriffen und stieg die Treppen nach oben. Sie sah, wie seine Knöchel weiß hervortraten, doch konnte dem keine Beachtung schenken. „Was soll das heißen? Miguel, das war mein voller Ernst. Du wirst keinen Kontakt mehr mit diesem Jungen haben. Willst du im Gefängnis landen? Ist dir dein Leben nichts wert?" Er drehte sich energisch zu ihr, verzog das Gesicht kurz, sammelte sich jedoch recht schnell wieder. Nahla war ihm hinterhergelaufen und befand sich deshalb direkt vor ihm. Sie zuckte zurück, als er lauter ihr gegenüber wurde. „Nein, ist es nicht. Halt dich aus dieser Sache raus. Das ist kein Kinderspiel. Ich meine es ernst Nahla. Vergiss. Was. Du. Gesehen. Hast." Er betonte jedes einzelne Wort. War das ihr Bruder? Sie erkannte Miguel nicht wieder. Wie war er nur in diese Misere hineingeraten? Er war noch niemals respektlos zu seiner Schwester. Doch nun sah Nahla einen anderen Menschen vor sich. „Wie kannst du so mit mir sprechen?" Miguel ignorierte sie und ging einfach nach oben in sein Zimmer. „Miguel? Bleib stehen. Wir müssen reden." Er schlug die Tür zu und schloss hinter sich ab. Nahla schaute ungläubig zur Tür und fing an dagegen zu klopfen. „Miguel, mach auf. Du kannst dieses Thema nicht einfach schließen. Wir müssen darüber reden. Du verstehst nicht, in was für eine Lage du dich damit begibst."

Nahla - Wirst du vertrauen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt