Eine Stunde war vergangen, seitdem Miguel gegangen war. Nahla saß auf dem Barhocker in der Küche, während Avery ihr über den Rücken strich und Paige ihr einen Tee zubereitete. Ununterbrochen liefen ihr die Tränen herunter. Ihr Verstand schien wie abgestürzt. Das erste was sie getan hatte, war es, weinend Paige anzurufen und ihr zu sagen, dass ihr Bruder sie verlassen hatte. Zwanzig Minuten später standen die beiden vor ihrer Haustür. Nahla hatte alles von a bis z noch einmal ihren Freundinnen erzählt. Sie hatte das Gefühl zu platzen durch den Druck, der sich in ihr aufgestaut hatte aufgrund der ganzen Geschehnisse. Es kam ihr so vor, als säße sie in einem Rollwagen, der einen steilen Berg hinabsauste und am Ende wartete der Abgrund auf sie. Alles wurde schlimmer, als es eh schon war. „Hier, trink das. Es wird dir gut tun." Paige stellte eine dampfende Tasse Kamillentee vor ihrer Nase ab und setzte sich dann gegenüber von Avery zu ihrer rechten. „Weißt du, wo dieser Rio wohnt?", fragte Avery. Nahla schüttelte verneinend ihren Kopf. „Wer weiß, wo er sich verkrochen hat, nachdem seine Eltern ihn aus dem Haus geschmissen haben", antwortete Nahla mit einer brüchigen Stimme. „Dieser kleiner Pisser. Bestimmt hat er diesen ganzen Scheiß Miguel eingeredet."
„Glaube ich auch. Miguel war immer brav und so liebenswert. Er hätte sowas nicht getan", erwiderte Avery zu Paige, doch Nahla schüttelte ihren Kopf. „Miguel ist kein kleines Kind. Er hätte sich von ihm fern halten müssen, nachdem er bemerkt hatte, dass Rio sich in diese Drogengeschichte verfangen hat." Schweigen folgte auf ihr gesagtes. Die Mädels wussten, dass Nahla recht hatte. „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Wäre Mum nicht gestorben, wäre all das nicht einmal passiert. Ich habe nicht genug acht auf Miguel gegeben. Ich habe mich so auf Lucio fokussiert, weil er noch so klein war und dabei nicht bemerkt, wie mein anderer Bruder in diesen ganzen Mist hineingeraten ist." Zwei Tränen tropften auf den Tisch, während Nahla ihren Kopf in den Händen vergrub. Paige und Avery warfen sich einen verzweifelten Blick zu. Es tat ihnen weh, zu sehen, wie viel Leid ihre Freundin mit sich trug. „Du bist auch nur ein Mensch, Nahla. Nicht nur Miguel und Lucio haben ihre Mutter verloren, sondern du auch. Sei nicht so hart zu dir selbst. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie sehr du dich um deine Brüder gesorgt hast. Es ist normal, dass Lucio mehr Aufmerksamkeit von dir bekommen hat. Er war noch ein Baby. Wer von uns hätte es denn anders getan? Du konntest deine Trauer nicht einmal richtig ausleben, weil du dich direkt in die Mutterrolle hineinversetzt hast." Paiges Worte beruhigten Nahla kaum. Denn das was sie versuchte zu erläutern, war für Nahla selbstverständlich. „Es gibt nichts, was du dir vorwerfen solltest. Du hast alles für die beiden getan. Mrs. Lowery wäre sicherlich stolz auf dich." Dem war sich Nahla überhaupt nicht sicher. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr nagte das Versagen an ihr. „Wo ist er nur?" Avery strich über ihren Rücken. Die Mädels wussten selbst nicht mehr, was sie als Trost sagen könnten, oder ob es überhaupt die Möglichkeit gab, sie zu trösten. Auch wenn sie versuchten, Nahla aufzumuntern, wussten sie genau, dass es nicht einfach sein würde Miguel aus dieser Geschichte rauszubekommen. Die erste Hürde war es erstmal, ihn überhaupt zu finden. Nahla strich sich die Tränen von den Wangen. „Ich muss Aiden anrufen. Vielleicht weiß er mehr von Miguels Freunden als ich. In letzter Zeit hatten sie ein besseres Verhältnis. Möglicherweise hat er ihm etwas anvertraut, was mir helfen könnte ihn zu finden."
„Das ist eine gute Idee. Und auch wenn er nichts weiß, könnte er dir helfen vielleicht etwas herauszufinden. Alleine wirst du das nicht können, Süße. Und zur Polizei kannst du auch nicht."
Paige nickte zustimmend und zwang Nahla mit den Blicken aus ihrer Tasse zu trinken. Ihr Inneres füllte sich etwas mit Wärme, als sie ein paar Schlücke trank, doch viel zu schnell griffen die Klauen der Kälte nach ihr. Mit Drang und Zwang brachten ihre Freundinnen Nahla wieder in ihr Bett, damit sie wenigstens etwas für den nächsten Tag ausgeruht war und während Paige die Nacht bei Nahla blieb, ging Avery Nachhause. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis Nahla einschlief, während sie ihren kleinen Bruder so fest umklammerte wie nie. Ein paar Tränen landeten auf ihrem Kissen und dann schlief sie mit schwerem Herzen auch schon ein, durch die Erschöpfung.
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Nahla - Wirst du vertrauen?
RomanceEine schöne junge Frau, deren Brüder, ihre einzigen Schätze sind und für die sie alles tun würde. Ein starker und gefährlicher Mann, dessen Macht über vieles hinaus reicht, außer der Frau, mit der er auf unglückliche Weise zusammengestoßen ist und d...