Während ich mich von Shivan trösten lasse, frage ich mich, ob Syl jemanden hat, der ihn tröstet. Er hat Leute, mit denen er seine Pausen verbringt, mit denen er wahrscheinlich auch seine Freizeit verbringt – oder auch nicht, da er ja, wie er sagt, keine Zeit hat. Aber vertraut er ihnen? Redet er mit ihnen über seine Probleme? Besuchen sie ihn zuhause?
Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, glaube ich das nicht. Da sind die leisen fiesen Stimmen, dass er mich in allen Belangen längst ersetzt hat – aber eigentlich glaube ich nicht, dass sie einander so nah sind. Er kennt die Typen nicht seit gestern, sondern schon seit Jahren. Und immer war ich derjenige, den er am meisten hat teilhaben lassen, zumindest glaube ich das. Ich war ja nie dabei, wenn er mit seinen anderen Freunden Zeit verbracht hat – allerdings war das auch nicht sonderlich oft, da wir im Wald schießen waren, wenn wir nicht zusammen gezockt haben.
Mein Herz tut weh und ich schluchze auf. Keine Chance, meine Tränen aufzuhalten, jetzt wo die Dämme einmal gebrochen sind. Syl soll jemanden haben, der ihn in den Arm nimmt, wie Shivan es bei mir tut. Ich wäre gern derjenige, der für ihn da ist, aber das will er nicht und ich verstehe verdammt noch mal nicht wieso nicht.
Shivan streichelt mir über den Rücken und zieht mich eng an seine Brust. Ich fühle mich gut und schlecht zugleich deswegen. Gut, weil ich mich angekommen fühle in seiner Umarmung. Weil die ganzen Zweifel verstummen und es sich einfach nur richtig anfühlt. Er vermittelt mir eine Geborgenheit, die ich zuletzt von meinen Eltern gespürt habe, bevor die Zeit des ewigen Streitens begonnen hat. Schlecht, weil ich an Syl denke und daran, dass ihm niemand dieses Gefühl vermittelt – vor allem seine Mutter nicht.
„Ich bin da, Denny", sagt Shivan leise. Seine Hand bewegt sich in raumgreifenden Bewegungen über meinen Rücken. „Das wird sich auch nicht plötzlich ändern. Versprochen."
Erst seine Worte machen mir klar, wie viel Angst ich auch davor habe, bald ganz allein dazustehen. Shivan wird Syl niemals ersetzen können, aber er hat ein offenes Ohr für mich und verbringt seine Tage gern mit mir. Dank ihm bin ich nicht allein mit den Menschen in meiner Konsole, die mich außerhalb der Games kaum interessieren.
Ich ziehe die Nase hoch. „Danke", flüstere ich. Ich drehe mein Gesicht zur Seite und wische mir über die nasse Haut. „Bin gleich wieder da." In der Hoffnung, ungesehen das Bad zu erreichen, löse ich mich. Ich lasse die klimpernden Vorhänge hinter mir und verberge meinen gesenkten Blick hinter meiner Hand. Eilig verschwinde ich im Badezimmer und schließe erleichtert die Tür hinter mir ab. Aus dem Spiegel blickt mir mein verheultes Gesicht entgegen und ich putze mir die laufende Nase mit Klopapier, ehe ich es mit kaltem Wasser wasche.
„Ablenken oder reden?", fragt Shivan, als ich am Paravent vorbei wieder in sein Zimmer trete.
„Ablenken", erwidere ich. Es gibt nichts zu sagen, nicht zu Shivan. Es gibt einiges, das ich Syl gern sagen würde – wenn er es denn hören wollen würde. Vielleicht kann ich ihm irgendwie zeigen, dass ich für ihn da bin, ohne ihn zu bedrängen. Um darüber und über ähnliche Dinge nachzudenken, schlage ich vor, dass wir einen Film schauen. Wir entscheiden uns für Need for Speed mit Aaron Paul in der Hauptrolle. Im Gegensatz zu Shivan kenne ich den Film schon, was mir nur recht ist. So kann ich mich besser in meine Gedanken verlieren. Und während wir so dasitzen, wandern sie von Syl weg zu der letzten Nacht, die ich bei Shivan verbracht habe. Ich erinnere mich an das Gefühl seiner Finger auf meiner Haut, die mich wie feine Federn sacht und vorsichtig berührt haben. An seine Lippen auf meinen und wie die ganzen Sorgen für einen Moment verstummt sind. Die Fragen, ob das okay und richtig ist.
Ich löse meinen Blick von Shivans Fernseher und suche nach seiner Hand. Shivan hat ein Bein aufgestellt, seinen Ellenbogen auf sein Knie gestützt und die Hand in seinen Haaren vergraben. Die andere Hand liegt auf seinem Oberschenkel auf der Matratze. Die Finger sind leicht eingerollt, seine Haltung ist entspannt. Sie liegt da, offen und ungeschützt. Ich könnte meine Hand ausstrecken und meine Finger mit Shivans verschränken, wie wir es letzte Woche gemacht haben. Wie wir es heute am Bahnhof gemacht haben und im Kino. Ich könnte und ich würde gern – aber ich trau mich nicht. Keine Ahnung, was mich abhält, denn beschweren würde Shivan sich gewiss nicht. Ich brauche keine Angst zu haben, von ihm abgelehnt zu werden, das hat er mir deutlich genug gezeigt und gesagt. Aber ich habe sie trotzdem. Stelle mir vor, wie er angewidert seine Hand zurückzieht und mich unter zusammengezogenen Augenbrauen her verständnislos anblickt. Wie er mir sagt, dass ich das alles falsch verstanden habe, und dass er gewiss kein Interesse an mir hat.
DU LIEST GERADE
Im Internet gibt es keine Frauen
Dla nastolatkówIm Internet gibt es keine Frauen. Das ist allgemeingültiges Wissen und auch Denny, der leidenschaftliche Call of Duty-Spieler, ist sich dessen bewusst. Aber als er online die geheimnisvolle MissMolotov kennenlernt, wirft er alle guten Vorsätze über...