Kapitel 2

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Langsam ließ Nachtigall ihren Blick über die Lichtung schweifen. Es sah aus, als wäre ein Sturm durch das Lager gefegt und hätte nur eine Spur der Verwüstung zurückgelassen. Die Ranken waren von den Eingängen der Baue gerissen, die sonst das Licht am Eindringen hinderten. Auch die mühevoll errichtete Mauer aus Felsen war umgestoßen worden. Eigentlich sollte sie als kleine Tarnung vor Füchsen dienen, doch der Stamm des Lichts kannte den Standort ihres Lagers schon lang.

"Ich brauche Spinnenweben! Schnell!" Sturms lauter Ruf ertönte in Nachtigalls Ohren und sie fuhr herum. Die dunkelbraune Kätzin mit den weißen Streifen hockte an der Seite ihres Bruders Regen, aus dessen Hinterbein ununterbrochen Blut floss.

Erschrocken sah Nachtigall sich um. Sie war nicht für das Versorgen von Verletzten ausgebildet. Sie hatte keine Ahnung! Wenn aber niemand kann, muss ich es zumindest versuchen. Entschlossenheit durchströmte die beige Kätzin mit den weißen Pfoten. So schnell sie konnte, rannte sie zu dem knochigen Baum, der etwas hinter dem Lehrlingsbau versteckt war.

Mit ihrer Pfote fischte sie ein paar Spinnenweben aus der Kuhle, in der der Stamm seine Vorräte an Kräutern und anderen nützlichen Dingen lagerte, und eilte zu Sturm hinüber.

Die Kämpferin sah sie dankbar an. Dann deutete sie auf Regens Wunde und befahl: "Drück sie auf den Kern der Blutung, damit wir sie stoppen können." Nachtigall tat wie ihr geheißen. Warmes Blut strömte über ihre Pfoten, während Sturm ihrem Bruder ein paar dunkle Kügelchen in den Mund schob. "Schlucken."

Unsicher betrachtete Nachtigall die Spinnenweben, die sich inzwischen rot gefärbt hatten. Sie wagte nicht zu fragen, wann sie aufhören konnte und presste die weißen Fäden stumm weiter auf die Wunde.

Nach kurzer Zeit nickte Sturm zufrieden. "Ich denke, du kannst jetzt aufhören, Nachtigall.", miaute sie. Die beige Kätzin nahm ihre Vorderpfoten erleichtert von Regens Bein und streifte das Blut an einem Stück Moos ab, dass von vorherigen Behandlungen noch auf der Lichtung lag.

"Wird er es schaffen?", fragte sie vorsichtig, um Sturm nicht zu verärgern. Die Kätzin zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf Regen.

"Das wird schon." Ohne ein weiteres Wort tappte sie davon.

Nachtigall sah ihr kopfschüttelnd nach. Natürlich haben sie nicht das beste Verhältnis, aber dass sie sich nicht einmal jetzt um ihn kümmert. Sie seufzte. Vielleicht ist es für sie ja bereits schwer, ihm überhaupt zu helfen. Die Kätzin erinnerte sich genau an den Tag, an dem Sturm und Regen sich für wohl immer zerstritten hatten. Sie waren damals noch Lehrlinge und hatten an ihrem ersten Kampf teilgenommen. Doch etwas war schief gegangen, als Regen sich nicht an den Plan gehalten hatte, um bei den großen Katzen mitzukämpfen. Dies hatte seiner Schwester Blut das Leben gekostet.

Seitdem sprachen Himmel und Sturm kaum noch mit ihrem Bruder und auch ihre Mutter Schlange hatte sich von ihnen abgewandt, weil sie Regen als Schande für ihre Familie ansah.

Betrübt verdrängte Nachtigall diese Erinnerungen. Es gab jetzt keine Zeit für sie, in der Vergangenheit zu schwelgen. Sie musste sich weiter um Regen kümmern, sonst könnte es schlecht für sein Bein aussehen.

Zu ihrem Glück tauchte plötzlich Tatze an ihrer Seite auf und legte ein Bündel Pflanzen ab. "Brauchst du Hilfe?" Dankbar nickte Nachtigall ihrer Schwester zu, die daraufhin anfing, ein paar der Blätter zu einer Paste zu zerkauen. "Sturm wollte ihm nicht helfen?", nuschelte die weiße Kätzin mit den dunkelbraunen Tupfen mit vollem Mund und sah ihre Schwester erwartungsvoll an.

Nachtigall erwiderte ihren Blick verbittert. "Nicht wirklich, aber was soll sie auch machen? Regen ist Schuld am Tod ihrer und seiner Schwester."

Tatze zuckte mit den Schultern und begann, die Paste auf Regens Wunde zu verteilen. "Laut ihm hätte Blut auf sich selbst aufpassen können.", miaute sie nachdenklich. "Ich kann Sturm und Himmel verstehen, doch nach all den Monden könnten sie sich wenigstens aussprechen, oder?" Ohne mit ihrer Arbeit aufzuhören, schob sie Nachtigall ein paar rote und violette Blätter zu. "Zerkau sie und streich sie dann auch auf diese Stelle."

Nachtigalls Kampf (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt