Kapitel 9

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"Nein!"
"Sie bringt alle um!"
"Mörderin!"

Die Rufe der Katzen drangen nur noch schwach zu Nachtigall vor. Wie erstarrt sah die beige Kätzin mit den weißen Pfoten zu, wie Kämpfer, Lehrlinge - einfach jeder zusammenbrach. Bald würde es auch sie treffen. Werde ich dann auch sterben? Das Entsezten, das zuerst in Nachtigall gewütet hatte, war inzwischen verschwunden. In ihrer Brust kämpften nur noch Angst und der Drang, etwas zu unternehmen, gegeneinander.

Betäubt sah die beige Kätzin mit den weißen Pfoten zu ihrem Bruder, der trotz seines blutenden Vorderlaufs zu Kratzer gelaufen war. "Wir müssen etwas unternehmen.", hörte sie Dachs sagen.

Doch der Anführer vom Stamm der Nacht schwieg. In seinen Bernsteinaugen lag ein seltsames Funkeln, aber Nachtigall konnte nicht sagen, was es zu bedeuten hatte. Plötzlich drehte sich der dunkelgraue Kater mit den roten Streifen um und ging auf jemanden zu. Dachs sah ihm perplex nach.

Vergebens versuchte Nachtigall zu erkennen, mit wem Kratzer sprach, doch da ertönte ein lauter Schrei.

"Pass auf!"

Die Kämpferin wirbelte herum, um zu erkennen, wer geschrien hatte. Ihr Blick fiel auf Klinge, die mit zerkratzem Gesicht zu ihrer Adoptivschwester Geist starrte. Nachtigall folgte ihrem Blick und entdeckte Schwalbe, der mit blitztenden Augen auf der Gesteinsspitze in der Mitte der Lichtung stand. Seine ausgefahreren Krallen kratzten über den den silbrigen Fels. Ein schreckliches Gefühl machte sich in dem Bauch der beigen Kätzin mit den weißen Pfoten breit. Er wird doch nicht etwa...Doch ihr blieb keine Zeit, ihren Gedanken zu beenden.

Es schienen Monde zu vergehen, da stürzte sich der Anführer vom Stamm des Lichts von dem Felsen. Ein scheußliches Knacken durchschnitt die Nachtluft, als er seine Krallen in Geists Nacken vergrub.

Nein! Nachtigall schrie, doch kein Ton kam heraus.

Geist riss ihre hellblauen Augen auf. Sie öffnete den Mund und richtete ihren Blick, aus dem jeglicher Ausdruck entwich, auf Nachtigall. Verzweilflung durchströmte die Kämpferin. Aus Geists Kehle ertönte ein Gurgeln, ehe ihre Augen sich verdrehten. Oder taten sie das überhaupt? Sah sie vielleicht nur zum wolkenbedeckten Himmel hinauf? Wollte sie noch einmal seine Schönheit bewundern, auch wenn das Licht der Sterne ihn nicht erhellte?

Trauer schnürte Nachtigalls Kehle zu und es schien, als würde die Nacht noch dunkler werden als zuvor. Als würde ihre Finsternis einer bedrückenden Schwärze weichen. Schwärzer als die Nacht selbst. Schwärzer als gar der Tod.

Plötzlich zeriss ein Jaulen das Schweigen der erstarrten Katzen.

Es kostete Nachtigall jegliche Kraft, ihren Blick von Geist abzuwenden, die zusammengesackt auf dem nackten Erdboden lag. Kratzer war vorgetreten, seine Bernsteinaugen funkelten. Sein ganzer Körper bebte vor Zorn.

"Wie kannst du es wagen?", knurrte er, doch Nachtigall hörte den Schmerz in seiner Stimme.

Sie wusste nicht recht, ob es sie überraschte, dass ihr Anführer um seine Stammesgefährtin trauerte, oder ob es ihr egal war. Ob ihr gerade einfach alles egal war. Geist war tot und nichts würde das ändern. Warum verlassen mich alle, an denen mir etwas liegt? Wie betäubt sah sie zu Schwalbe, der mit erhobenem Kinn vortrat. Mörder! Er beachtet sie nicht einmal. Es interessiert ihn nicht, dass sie tot ist.

"Wie ich was wagen kann? Das Leiden meiner und deiner Katzen zu beenden?", entgegnete der schwarzweiße Kater trocken. "Es tut mir leid, dass sie noch so jung war, aber es musste sein."

"Lügner!"

Ehe sie überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, fand Nachtigall sich mit gesträubtem Fell und blitzenden Augen wieder. Der Schmerz aus ihrer Schulter, ihrem Bein - er war verschwunden. Stattdessen wütete ein Sturm der Trauer in ihrer Brust und drohte, sie jeden Moment zu ersticken. Schwalbe sah die beige Kätzin überrascht an. "Ich bewundere deine Loyalität gegenüber deiner Stammesgefährtin. Es fiel mir nicht leid, glaub mir. Aber ich kann meinen Stamm nicht sterben lassen, weil dein Anführer zu leichtsinnig ist." Ohne sie antworten zu lassen, wandte er sich wieder an Kratzer.

Ich glaube ihm gar nichts! Es gab noch viele weitere Wege, doch er wollte diesen wählen. Zorn loderte in Nachtigall auf. Und wenn Kratzer einen Fehler gemacht hat, muss Geist nicht dafür büßen!

Doch obwohl sie spürte, wie die Wut sie von innen heraus wie ein Feuer auffraß, durfte sie sich ihr nicht geben. Sie musste sich jetzt zusammenreißen, sonst könnte sie alles noch schlimmer machen.

Schweigend sah sie zu, wie Schwalbe einen Schritt vortrat. "Ich habe gedacht, du wärst klüger.", seufzte er und schüttelte den Kopf. "Eine Wächterin auszubilden ist und war schon immer ein fataler Fehler."

Kratzer stellte wütend sein Fell auf. "Erzähl du mir nichts von Fehlern! Ich bin kein Junges mehr und weiß meine eigenen Entscheidungen zu treffen."

Zu Nachtigalls Überraschung schnurrte Schwalbe amüsiert. "Das sehe ich." Verspottet er ihn? Die Kämpferin blinzelte verwirrt und vergaß für wenige Herzschläge ihre Trauer, doch da änderte der schwarzweiße Kater rasch das Thema.

"Verschwindet jetzt aus meinem Lager und nehmt diese Katze mit."

Ein Knurren etwich Nachtigalls Kehle. Plötzlich streifte weiches Fell das ihre. "Sie heißt Geist."

Überrascht drehte die beige Kätzin den Kopf und sah in graue Augen, die vor Kummer zu Schlitzen geformt waren, als ob sie ihn so verstecken könnten. Klinges Adoptivschwester und beste Freundin sah den Anführer vom Stamm des Lichts trotzig an. Dankbarkeit durchströmte Nachtigall. Sie mag zwar nicht von hier kommen, aber im Herzen ist sie eine von uns.

Schwalbe zuckte unbekümmert mit den Ohren. "Von mir aus, aber jetzt geht."

Sein eisiger Blick schweifte zwischen den Katzen vom Stamm der Nacht hin und her, während diese langsam und mit hängenden Köpfen in Richtung des Lagereingangs tappten.

Nachtigall entdeckte Kralle, die entsetzt auf Geists Leichnam hinabsah. Da siehst du, was du angerichtet hast., war ihr erster Gedanke, den sie jedoch sofort abschüttelte. Sie kann nichts dafür. Sie ist selbst nur eine Leidtragende. Auf einmal erwiderte die hellgraue Kätzin Schwalbes kalten Blick und zischte ihm etwas zu, woraufhin der Kater irritiert den Kopf schieflegte. War da Unsicherheit in seinen Augen? Verwirrt wandte Nachtigall sich ab. Auf zitternden Beinen humpelte sie Klinge hinterher, die ebenfalls mit den anderen das Lager verließ. Plötzlich ertönte noch einmal Schwalbes Stimme hinter ihnen.

"Sollte ich herausfinden, dass erneut ein Wächter unter euch weilt, werde ich ihn töten. Und nicht nur ihn, sondern für euren gesamten Stamm wird es das letzte Mal gewesen sein, dass ihr das Licht des Mondes erblickt habt. Ein Krieg wäre unvermeidbar. Der Stamm des Lichts wird diesen Tag nie vergessen."

Ein Schauer lief Nachtigalls Rücken hinunter. Meint er das ernst? Angst kroch wie Kälte unter ihr dichtes Fell, doch sie musste diese Sorgen für's Erste verdrängen. Falls es überhaupt je wieder einen Wächter geben sollte, wäre der Stamm bestimmt schlauer als dieses Mal. Seite an Seite mit ihren Stammesgefährten ging sie aus dem Lager. Nachtigall drehte noch einmal den Kopf, um zu sehen, wie Kralle Geist am Nacken gepackt hatte und hinter ihnen herzog. Bereute sie ihre Entscheidung?

Nachtigall schloss die Augen. In ihrem Kopf blitzte das Bild von Geist auf, wie sie mit angsterfülltem Blick zu ihr hinaufsah. "Dabei wird das mein sicherer Tod sein." Die Stimme des jungen Lehrlings hallte noch immer in ihren Ohren wider. Ich hätte sie retten können, aber ich habe es nicht.

Schweigend tauchten die Katzen in die Nacht und verschmolzen mit ihr. Sie waren eins. Von Fellfarbe bis Gedanken, sie waren durch und durch so finster wie die Nacht.

Nachtigalls Kampf (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt