Kapitel 22

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Die Terrassentür gibt ein knarzendes Geräusch von sich, als ich am frühen Abend in das Innere des Ferienhauses trete. Die Sonne steht noch immer hoch am Himmel, wirft ihre Lichtstrahlen auf den Parkettboden, der sich angenehm warm unter meinen nackten Füßen anfühlt. Ich trage ein weißes Sommerkleid. Eines, von dem ich hoffe, dass es Hannah gefallen wird. Eines, von dem ich hoffe, dass sie sofort erkennt, dass ich mich nur für sie so viel Mühe gegeben habe, nur für sie schön sein möchte.
Hannah bemerkt mein Eintreten nicht. Sie steht mit dem Rücken zu mir in der Küche, rührt mit einem Löffel in einem Topf auf dem Herd, während sie gleichzeitig zu dem Takt der Musik aus dem Radio mit ihren Hüften schwingt und schief zu dem Lied mitsingt. Das Bild amüsiert mich, ist es doch ein so ungewohnter Anblick.
Sie wirkt völlig in sich gekehrt, gefangen in dem Augenblick, sodass sie nicht einmal bemerkt, wie Kasper Schwanz wedelnd auf mich zugelaufen kommt.
Ich gehe in die Hocke und kraule ihn. „Hallo mein Freund. Ich wusste ja gar nicht, dass dein Frauchen eine so talentierte Sängerin ist."
„Höre ich da so etwas wie Ironie in deiner Stimme?"
Ich hebe den Blick und treffe auf das schönste Mitternachtsblau, das ich je in meinem Leben gesehen habe. So rein, so intensiv, so voller Unendlichkeit und Tiefe, dass ich am liebsten laut aufseufzen möchte.
„Das würde ich mich gar nicht trauen", witzle ich, lasse von Kaspers weichem Fell ab und gehe die wenigen Schritte auf Hannah zu, die uns noch voneinander trennen. „Du hast eine sehr ..." Ich suche nach den passenden Worten. „...interessante Stimme."
Hannah lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Küchenzeile.
„Du kannst mir ruhig sagen, dass du mich nicht gerne singen hörst."
Ich schlinge meine Hände um ihre Hüften und lehne mich noch ein Stück weiter zu ihr vor, weil ich ganz genau weiß, dass sie nicht wirklich eingeschnappt ist.
„Das stimmt nicht. Ich höre dir gerne zu. Das zeigt mir, dass du nicht in allem so schrecklich perfekt bist. Jetzt, wo ich weiß, dass du nicht singen kannst, bist du ein bisschen realer. Real und so unperfekt, dass es dich gleich noch schöner macht", flüstere ich gegen ihre Lippen.
Hannah lächelt. „Du bist viel zu süß für diese Welt, Maja Lindberg."
Mein Name ist nur noch ein Hauchen, das sanft über ihre Lippen gleitet. Ihr lüsterner Blick wandert zu meinem Mund, bleibt dort hängen und bittet stumm um die Erlaubnis, die ich ihr ohne weiteres gewähre.
Dann küsst mich Hannah. Oder besser, sie verschlingt mich. Wie eine Ausgehungerte umschließen ihre Lippen die meine, schmiegen sich an sie, bewegen sich an ihnen. Und ich kann nichts anderes tun als die Augen zu schließen und mich mit einem Seufzen noch enger an ihren warmen, weichen Körper sinken zu lassen. Unser Kuss ist hitzig, aber nicht hastig, wild, aber nicht ungestüm. Als müssten wir mit diesem einen Kuss aufholen, was wir in all den Jahren, aber vor allem in den letzten Stunden der Trennung verpasst haben.
„Die Sehnsucht nach dir war kaum auszuhalten", haucht Hannah in einem Moment der Atemlosigkeit, ehe sie ihren Mund erneut auf meinen presst, ihre Zunge meine gierig umspielt. Ich lächle in den Kuss hinein, streichle mit meinen Händen über ihre Seiten, ihren Rücken, nur, um sie dann noch etwas dichter an mich zu ziehen. Ich kann einfach nicht genug von ihr bekommen, kann einfach nicht aufhören, sie zu liebkosen. Und auch Hannah scheint es so zu gehen, denn keine von uns denkt daran, diesen Moment der Leidenschaft verstreichen zu lassen.
Erst ein lautes Piepen, das nervtötend durch die Luft schneidet, zwingt uns voneinander abzulassen.
„Das ist der Fisch. Er muss aus dem Ofen", haucht Hannah und klingt dabei mindestens genauso atemlos, wie ich mich fühle.
Widerwillig lasse ich Hannah los, damit sie sich um das Essen kümmern kann.
„Du hast dir so viel Mühe gegeben", sage ich anerkennend und lasse meinen Blick zu dem Tisch auf der Terrasse gleiten, der bereits liebevoll gedeckt und mit Kerzen und Blumen dekoriert ist.
„Natürlich. Es ist schließlich für dich."
Ihre Worte sorgen dafür, dass ich sie am liebsten sofort wieder an mich ziehen und weiterküssen möchte. Doch mein grummelnder Magen erinnert mich augenblicklich daran, dass er nun schon seit Stunden nichts mehr zu Essen gesehen hat. Deshalb lasse ich von meinem Vorhaben ab und helfe Hannah beim Servieren.
„Es ist nur ein einfaches Essen. Du weißt ja, dass Kochen nicht gerade zu meinen Stärken gehört."
Die Selbstzweifel, die ihren Worten mitschwingen, sind kaum zu überhören.
„Mach dir keine Gedanken! Ich bin mir sicher, dass es sehr gut schmecken wird", lasse ich sie wissen und schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln.
Wir lassen uns am Tisch gegenüber voneinander nieder, sodass ich jederzeit Hannahs blaue Augen suchen oder ihre Hand in meine nehmen kann.
Hannah befüllt unsere Gläser mit einem kühlen Weißwein, der goldig im Licht der Sonne schimmert.
„Auf einen wunderschönen Abend!", sagt sie und erhebt das Weinglas.
„Auf deine unsagbar guten Gesangskünste", witzle ich, was mir von Hannah nur ein schiefes Grinsen einbringt.
„Auf uns", sagen wir schließlich gemeinsam und stoßen an.

Forgotten LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt