Kapitel 25

797 48 8
                                    

Hannahs Sicht:

Es ist ein seltsames Gefühl, sich nicht an seine Vergangenheit erinnern zu können. So viel Freude, so viel Leid - so viele Erinnerungen, die wie glitzernde Seifenblasen durch meinen Kopf schweben und immer dann zerplatzen, wenn ich sie zu fassen versuche. Doch auch wenn sich dieses Nichts in mir mit seinen dunklen Schatten auf meine Seele legt, ich manchmal vor Wut und Verzweiflung kaum atmen kann, ist da doch auch immer ein kleiner Hauch von Erleichterung gewesen. Erleichterung darüber, in meinen Erinnerungen nie wieder durchleben zu müssen, was mir einst das Herz aus der Brust gerissen hat. Es war, als hätte man einem Fotoalbum all seine Seiten entrissen - die, die voller guter, wunderschöner Bilder waren, aber auch die, die einen daran erinnern, was einst war und was für immer verloren ist. Sich an diese nicht erinnern zu müssen, empfand ich als Segen, ja fast als Gegenleistung dafür, dass auch die schönsten Erinnerungen ausgelöscht waren.
Doch als ich mich jetzt langsam auf dem Sofa aufrichte, sich die Nebelschwaden in meinem Kopf lösen und die Bilder auf das preisgeben, was ich eben noch als schrecklichen Albtraum abgetan habe, weiß ich, dass zumindest ein Teil meiner Erinnerungen zurückgekehrt ist. Und dieser Teil ist ausgerecht der, den ich am liebsten bis zum Ende meiner Tage vergessen, auf Ewigkeiten ausgelöscht hätte.
Denn die Erkenntnis darüber, wo sich mein Kind, mein kleines Mädchen befindet, trifft mich spätestens in dem Augenblick, in dem mein Blick auf Christophs bedrückte Miene fällt. Er scheint plötzlich um Jahre gealtert. Seine Haut wirkt so blass, so eingefallen, dass die Sorge und das Bedauern darin kaum zu übersehen sind. Er sitzt auf der Lehne der Couch, wirkt in sich zusammengekauert und plötzlich überhaupt nicht mehr wie der Mann, der sich mir Minuten zuvor noch so selbsteingenommen präsentiert hat.
„Ist sie...ist sie..."
Ich bringe die Worte nicht über die Lippen, spüre, wie alles in mir allein bei dem Gedanken erfriert, aussprechen zu müssen, was so schrecklich, so vernichtend scheint. Gleichzeit rauscht mir das Blut so laut durch die Adern, dass ich von dem wilden Pochen in meinen Ohren Kopfschmerzen bekomme.
Ich weiß, dass diese Wahrheit weh tun wird. Ich weiß, dass sie mich innerlich in Stücke reißen, mich bis auf den Grund meiner Seele ausmerzen wird. Ich weiß, dass diese Wahrheit der Grund dafür war, warum ich mich nicht an das Leben erinnern wollte, das ich vor dem Unfall führte.
Doch in diesem Moment weiß ich auch, dass es mich zerstören wird, wenn ich weiter von dem davonlaufe, was mir so schreckliche Angst bereitet. Ich muss mich der Wahrheit stellen, wenn ich wieder leben will.
Auch wenn sich in diesem Moment ein Teil in mir fragt, ob ich mein Leben überhaupt noch will, wenn diese schreckliche Erkenntnis dabei ein ständiger Begleiter sein wird.
„Du hast unser Kind verloren, wenige Woche nach unserer gemeinsamen Hochzeit."
Christoph presst die Worte über die Lippen, als würden sie auch ihm körperliche Schmerzen bereiten. Und auch wenn sie kaum lauter als ein Flüstern sind, treffen sie mich mit einer ohrenbetäubenden Wucht.
Und dann ist da nichts als Leere.
Eine Leere, die mein ganzes Sein erfüllt und doch nicht den Schmerz lähmen kann, der irgendwo tief in mir seine Klauen nach mir ausstreckt.
Ich lasse mich zurück in die Kissen fallen, rolle mich zusammen und denke an das Leben, das ich verloren habe.
Da war ein kleiner Mensch in mir. Ein zweiter Herzschlag, der in mir schlug, der so sehr auf meinen Schutz und meine Liebe angewiesen war. Und den ich doch verloren habe.
Die ersten Tränen kommen leise, rinnen wie Tautropfen über meine Wangen. Dann kommt der Sturm der Verzweiflung, die Wellen aus Wut und Trauer, die über mir zusammenbrechen und die Leere unter sich begraben. Und mit all diesen wilden Gefühlen kommen die lauten Tränen, die sich wie Sturmfluten aus meinen Augen ergießen. Ich weine hemmungslos, gebe mich den Gefühlen des Verlustes ist, während Schmerzwelle um Schmerzwelle meinen Körper lähmen.
Nur am Rande bemerke ich, wie sich Kasper zu meinen Füßen zu einer Kugel zusammenrollt, die treuen Augen irritiert auf mich gerichtet. Christoph verschwindet hinaus auf die Terrasse, überlässt mich stumm meinem Schmerz. Ich kann nicht sagen, ob ich wütend oder dankbar dafür bin, dass er mich mit all der Trauer alleine lässt.
Die Dämmerung bricht bereits ein, als meine Tränen irgendwann versiegen. Was bleibt ist die Gewissheit, dass dieser Schmerz ab heute immer ein Teil meines Lebens sein wird. Und dass er nie weniger, nie erträglicher werden wird. Denn wie könnte man den Verlust des eigenen Kindes je verarbeiten?
Als ich mich jetzt aufrichte und mich mit wackeligen Schritten hinaus auf die Terrasse kämpfe, sitzt Christoph auf einem der Gartenstühle und schaut hinab auf das Handy in seinen Händen. Dabei wirkt er mit seinem viel zu schicken Anzug und der beschäftigten Haltung so fehl am Platz, dass ich mich am liebsten wieder umdrehen und hinaus aus diesem Haus, weg von ihm möchte. Aber ein Teil in mir, der Teil, der es nach dieser schrecklichen Wahrheit über den Verlust meines Kindes nicht erträgt, länger im Ungewissen leben zu müssen, hält mich zurück. Dieser Teil will endlich alles wissen - über meine Trennung von Maja, die Hochzeit mit Christoph, den Verlust unseres Kindes und den Unfall. Dieser Teil will endlich all die Fragen stellen, die ich mich zu fragen bisher nicht getraut habe.
Als ich mich jetzt gegenüber von Christoph auf die Gartenbank sinken lasse, hebt er endlich den Blick.
„Hast du dich etwas beruhigen können?"
Ich möchte mich angesichts dieser Frage am liebsten sofort übergeben. Wie könnte ich mich jemals beruhigen? Wie könnte ich jemals aufhören, aus tiefster Kehle schreien und weinen zu wollen. Wie kann er davon ausgehen, dass ich einfach so lerne, mit dem Tod meines Kindes zu leben?
Auch wenn ich ihm all das am liebsten ins Gesicht schreien will, bleibe ich stumm. Denn jetzt ist nicht richtige der Augenblick, um ihm zu sagen, wie sehr ich ihn für seine Art verabscheue.
Ich brauche Antworten. Und die bekomme ich nun mal nur von ihm.
„Wir haben also geheiratet? Kurz, nachdem ich dir von meiner Schwangerschaft erzählt habe und mich von dir trennen wollte? Was ist passiert, dass ich es doch nicht tat?"
Christoph lächelt amüsiert. „Was soll schon passiert sein? Du hast eingesehen, dass dein Wunsch nach einer Trennung nur dummes Gerede war und bist bei mir geblieben."
Er blickt so selbstgefällig auf mich herab, dass ich mir auf die Lippen beißen muss, um ihm nicht hier und jetzt eine heftige Ohrfeige zu verpassen.
„Lüg mich nicht an!", presse ich hervor. „Du hast mich mit dem Sorgerecht um unsere Tochter erpresst! Ich erinnere mich daran. Also sag mir verdammt nochmal die Wahrheit! Bin ich nur deshalb bei dir geblieben?"
Er seufzt frustriert auf, fast so, als würde ihm dieses Gespräch so unnötig erscheinen, dass es seiner Zeit gar nicht wert ist. Und diese Erkenntnis macht mich nur noch rasender vor Wut auf diesen Mann, der mir so viel nahm.
„Ich habe dich nicht erpresst, Liebling. Ich habe dir nur deutlich gemacht, welche Folgen dein unüberlegtes Handeln haben könnten. Aber das war gar nicht nötig, wie ich später erfuhr."
Seine Stimme trieft vor Genugtuung, als würde es ihm fast Freude bereiten, mich auf diese Weise zappeln zu lassen.
„Was meinst du damit?"
„Sie wollte dein Kind nicht."
Mein Herz setzt einen Schlag aus.
Was?
„Jetzt schau nicht so entsetzt! Was hast du erwartet? Dass sich deine kleine Geliebte dazu bereit erklärt, mit dir gemeinsam ein Kind aufzuziehen, obwohl sie selbst gerade erst aus dem Gröbsten raus war? Dann bist du sehr naiv, mein Liebling!"
Seine Worte spielen sich immer und immer wieder in meinem Kopf ab, doch mein Verstand will nicht glauben, was meine Ohren hören.
Maja soll unsere Liebe plötzlich nicht mehr gewollt haben, weil ich ein Kind in mir trug?
„Ich glaube dir kein Wort", werfe ich ihm entgegen, während nicht eine Faser meines Körpers daran zweifelt, dass mich Maja niemals auf diese Weise im Stich gelassen hätte.
Nein, dafür kenne ich diesen wunderschönen Menschen viel zu gut. Maja besitzt ein Herz aus Gold, eine Seele, so voller Vollkommenheit, dass es sie von innen heraus erstrahlen lässt. Und auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, was vor so vielen Jahren zwischen uns beiden geschah, so weiß ich doch, dass es niemals an mangelnder Liebe zueinander gelegen haben könnte. Denn wann immer mich Maja ansieht, wann immer ihre Finger über meine Haut tanzen und ihre Lippen meine küssen, spüre ich ihre unendliche Zuneigung zu mir. Ich weiß, Maja würde für mich die Welt aus den Angeln heben, würde für mich durch die Hölle gehen. Sie liebt mich und genauso hätte sie auch mein kleines Mädchen geliebt.
Also erhebe ich mich von der Bank und sehe Christoph aus tiefster Entschlossenheit an.
„Mag sein, dass ich mich nicht daran erinnern kann, was damals geschehen ist. Aber ich weiß eines ganz gewiss: Ich habe Maja geliebt, ich wollte ein Leben mit ihr. Genauso wie ich sie auch heute liebe, mir auch heute nur ein Leben an ihrer Seite vorstellen kann. Ich bitte dich deshalb, jetzt zu gehen! Ich will alleine sein", bringe ich mit fester Stimme hervor.
Ich sehe Christoph an, wie sehr es ihm missfällt, diese Worte hören zu müssen. Er verliert mich gerade zum zweiten Mal und auch wenn es ihn sicher verletzt, bin ich es leid, noch einen Tag länger an seiner Seite zu verbringen. Ich will nicht mehr diese Frau sein, die sich von ihm kontrollieren lässt. Ich will nicht mehr seine Frau sein.
„Das wirst du bereuen! Glaub bloß nicht, dass ich das so einfach mit mir machen lasse. Du bist meine Frau, Hannah, meine Frau!"
Ich kann nicht leugnen, dass mir seine Worte Angst bereiten, mir fast die Kehle zuschnüren. Aber ich will ihm nicht zeigen, wie sehr er mich einschüchtert.
„Geh jetzt!"
Christoph zögert noch einige Sekunden, wendet sich aber schließlich zum Gehen, als er einsieht, dass ich mich seinem Willen nicht mehr beugen werden. Nicht heute und niemals wieder.
„Du wirst schon wieder angekrochen kommen", murmelt er noch, kurz bevor er die Treppen zur Terrasse hinunter geht und um die Ecke des Hauses verschwindet.
Ich lasse mich zurück auf die Gartenbank sinken und atme erleichtert auf. Doch das Gefühl des Sauerstoffes, der meine Lungen füllt, kann nichts gegen die Schwere tun, die sich in diesem Augenblick erneut auf meinen Körper legt. Eine Schwere, die mich erneut unter sich zu begraben versucht, mir erneut die Tränen in die Augen treibt.
Sie ist tot. Mein Mädchen, meine Lena ist tot.
Ich will weinen, mich in meiner Trauer verlieren, vor Wut wild um mich schlagen und das Schicksal dafür verfluchen, dass es mir mein kleines Mädchen nahm.
Und doch ist da ein kleiner Teil in mir, der erleichtert darüber ist, jetzt die Wahrheit zu kennen. Endlich ergibt es einen Sinn, warum mich in den Nächten Albträume überkommen, an die ich mich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern kann, warum ich sehnsuchtsvoll den Namen meines Kindes schreie und wild um mich schlage. Das Sehnen nach meinem verlorenen Kind ist so stark, dass es mich trotzt meiner Amnesie heimsucht. Mit diesem Wissen scheint es plötzlich auch viel klarer, warum Maja annimmt, dass ich mich nicht an mich und meine Vergangenheit erinnern kann, weil es ein Teil in mir gar nicht will. Für diesen Teil ist die Trauer um mein Kind so unerträglich, dass es wohl einfacher scheint, all die Erinnerungen an die Vergangenheit auszublenden, als jemals wieder diesen vernichtenden Schmerz zu fühlen.
Diese Gewissheit scheint plötzlich so einnehmend, dass ich von der Bank aufspringe und auf das kaminrote Nachbarhaus zusteuere. Das Sehnen nach Maja erfasst meinen Körper, durchdringt jede Zelle, bis da nur noch dieser eine Gedanke ist, der mein Sein erfüllt: Bitte Maja, halt mich so fest du kannst. Und lass mich dann nie wieder los.
Ich will mich bei ihr entschuldigen. Für meine Wut, die ich auf sie empfand, obwohl sie es war, die es sich als einzige traute, die Wahrheit auszusprechen. Ich weiß, wie unfassbar schwer es Maja fällt, mit der Gewissheit umzugehen, dass ich mich niemals wieder an unsere gemeinsame Vergangenheit erinnern werde. Und wie wütend es sie macht, dass ich mein altes Ich, all meine Erinnerungen und vergangen Jahre längst aufgegeben habe. Obwohl da immer sie ist, für die es sich um jede Minute meiner verschwundenen Jahre zu kämpfen lohnt. Es war die Angst, die mich davor abgehalten hat, die mich fest in seinen Fängen hielt, mich innerlich lähmte und mir all meinen Mut nahm. Doch das ist jetzt vorbei. Ich habe mich den Dämonen meiner Vergangenheit gestellt und kann Maja jetzt endlich Antworten auf die Fragen geben, die sie schon so lange im Unklaren lassen. Auch wenn da noch immer ein dichter Nebel in meinem Kopf ist, noch immer so viele verschwommene Geschichten und Momentaufnahmen, so kann ich nun doch ein Stück unserer gemeinsamen Geschichte rekonstruieren. Und vielleicht haben wir dadurch endlich die Chance, gemeinsam neu anzufangen und unserer Liebe einen Neuanfang zu schenken.
Der Weg zu Maja fühlt sich unendlich weit an. Und als ich endlich die Treppenstufen erreiche, die hinauf zu ihrer Terrasse führen, ist die Sehnsucht in mir kaum noch auszuhalten. Der Drang, mich in ihre Arme zu stürzen und ihr von meiner Erinnerung zu erzählen ist so unglaublich groß, dass ich fast stolpere, als ich die Treppenstufen hinauflaufe. Und plötzlich innehalte.
Die Worte dringen nur wie durch Watte an mein Ohr, aber ich kann die Stimmen der beiden Frauen eindeutig zuordnen. Maja. Und Svenja.
Mein Herz schlägt jetzt so viel lauter in meinem Brustkorb, während mir ein Gefühl von Unbehagen die Kehle zuschnürt. Die Stimmen in meinem Kopf sind so laut, dringen wie schrille Alarmglocken in mein Bewusstsein.
Ich solle besser umdrehen, den beiden ihre Privatsphäre lassen.
Und das habe ich auch wirklich vor. Bis ich die Worte vernehme, die über Svenjas Lippen gleiten und sich wie Säure in mein Herz ätzten.
„Ich habe dich so vermisst, Maja. Die Trennung war ein Fehler. Der schlimmste meines Lebens."
Ich erstarre. Nur um dann wie ferngesteuert noch eine Treppenstufe hinaufzugehen, und noch eine, bis ich die zwei Gestalten hinter der offenstehenden Terrassentür stehen sehe. Und sich alles in mir auf qualvolle Weise zusammenzieht.
Die beiden liegen sich innig in den Armen. Körper an Körper, Herz an Herz. Svenjas Hand streichelt über Majas Rücken, während sie ihr Gesicht in ihrer Halsbeuge vergraben hat. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass sie ihren Duft einatmet, ihren Herzschlag spürt.
Ich will mich gegen den bitteren Geschmack der Eifersucht wehren, der mir die Übelkeit in den Körper treibt. Will mir einreden, dass diese Situation völlig harmlos ist und nichts zu bedeuten haben muss. Doch dann rufe ich mir wieder das Gespräch in Erinnerung, das Maja und ich nur vor wenigen Stunden geführt haben.
„Ich kann mich nicht erinnern, Maja. Nicht an unsere gemeinsame Vergangenheit, nicht an eine Lena und auch nicht daran, aus welchen Gründen ich dich damals verlassen habe. Ganz egal, warum ich an der Amnesie leiden, es wird sich nichts daran ändern. Entweder zu akzeptierst das oder..."
Auch wenn ich die Worte nicht ausgesprochen habe, so hingen sie doch wie pechschwarze Schwaden zwischen uns. Und versprachen etwas, dass ich im Rausch der Wut und Verzweiflung befürchtet, aber niemals so gemeint habe. Hat sich Maja meine Worte zu Herzen genommen? Flüchtet sie sich deshalb in die Arme der Frau, der sie schon einmal ihre Liebe versprochen hat?
Ich will in dieses Haus stürmen und mich zwischen ihnen beiden drängen. Will Svenja zeigen, dass Maja jetzt zu mir gehört, wir einander lieben.
„Ich bin froh, dass du hier bist", antwortet Maja. Und ihre Stimme scheint so voller Erleichterung, dass sich mein Brustkorb qualvoll zusammenzieht.
In diesem Augenblick bin ich mir sicher, dass ich gerade zur Beobachterin einer ungeahnten Versöhnung werde.
Und dann will ich nur noch weg, will nicht Zeuge dessen werden, was mein Herz in Stücke reißen würde.
Ich hechte die Stufen der Treppe hinunter, flüchte mich in das Ferienhaus. Doch die Enge in meiner Brust ist auch hier kaum auszuhalten. Der Raum scheint plötzlich so klein, die Wände scheinen immer näher und näher zu kommen. Ich muss hier raus, denke ich, schnappe mir Casper und laufe. Ich laufe einfach. Flüchte vor den Bildern, die sich in meinem Kopf immer schneller und schneller drehen. Bilder von Maja und Svenja, wie sie sich eng umschlungen halten, einander Halt und Schutz schenken. Bilder von den Erinnerungen an meine Vergangenheit, von Christoph und wie er mir drohte, mir mein Kind zu nehmen. Bilder von Maja und mir und unserer gemeinsamen, so wunderschönen Zeit, die wir hier in Schweden erleben durften.
Maja.
Ich denke an sie, sehe sie vor mir mit ihren smaragdgrünen Augen, die mir die Welt versprachen. Denke an ihr himmlisch-süßes Lächeln, das mir so oft eine prickelnde Gänsehaut bescherte. An die kleinen Grübchen, die ihr schönes Gesicht zieren und die ich so oft mit meinen Lippen berührt habe. An ihren zarten Mund, der mir das Glück, die Leichtigkeit und Freude zurück in den Körper küssten.
Und dann ist da die Schwere, die Angst und Ungewissheit, die sich wie eine Schicht aus Dunkelheit über all diese schönen Erinnerungen legen.
Und ich denke.
An Svenja, die Maja noch immer von Herzen zu lieben scheint.
An Christoph, der auf dem Papier noch immer mein Ehemann ist und mich niemals so einfach gehen lassen wird.
An mein verlorenes Kind, das ich niemals in meinen Armen halten durfte.
An die Krankheit, an all die fehlenden Jahre aus Erinnerungen, die doch immer wie eine dünne Schicht aus Eis zwischen Maja und mir lagen, unsere Herzen unweigerlich am Verschmelzen hinderten.
Und ich frage mich, wird es jemals anders sein? Wird Maja jemals damit leben können, dass ich nicht mehr die Frau bin, in die sie sich einst verliebt hat? Werde ich Maja jemals den Schmerz nehmen können, der ihr damals durch unsere Trennung die Seele zerfressen hat, der sie so sehr leiden ließ? Werden wir jemals neu anfangen können, ohne all der Dunkelheit in meinem Kopf, ohne Christoph und mit Hoffnung und grenzenloser Liebe im Herzen?
Ich weiß nicht, wo ich mich befinde, als ich in meinen Bewegungen innehalte, mitten auf einem leeren Feldweg unter der Dämmerung stehen bleibe.
Aber ich weiß, dass die Gedanken so sehr mein Sein beherrschen, sich so tief in mein Bewusstsein fressen, dass die Angst all die Liebe, Leidenschaft und Leichtigkeit, die ich dank Maja empfinde, überschattet.
Und dann treffe ich eine Entscheidung.
Eine Entscheidung, die ich mein Leben lang bereuen werde.

Forgotten LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt