Kapitel 26

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Es sind bereits über zwei Stunden vergangen, seit Hannah gegangen ist. Doch ihre Worte hallen noch immer in meinem Kopf nach, während sich ihr verletzter Blick in mein Bewusstsein gebrannt hat.

„Ich kann mich nicht erinnern, Maja. Nicht an unsere gemeinsame Vergangenheit, nicht an eine Lena und auch nicht daran, aus welchen Gründen ich dich damals verlassen habe. Ganz egal, warum ich an der Amnesie leiden, es wird sich nichts daran ändern. Entweder zu akzeptierst das oder..."

...oder wir beide können einander nie so frei und bedingungslos lieben, wie wir es uns immer so sehnlichst gewünscht haben.
Ich weiß, dass Hannah diese Worte aussprechen wollte, weiß, dass sie sie zumindest laut gedacht hat. Und die Gewissheit, dass sie keine Chance für uns sieht, wenn ich nicht lerne, die Vergangenheit vergangen sein zu lassen, beherrscht mein Denken, mein Fühlen, mein Sein.
Ich verstehe Hannah. Ich verstehe sie sogar verdammt gut. Es verletzt sie, dass ich noch immer so sehr an dem festhalte, was wir vor zehn Jahren hatten. Es verletzt sie, dass ich den Schmerz nicht loslassen kann, der ihre plötzliche Trennung in mir hinterlassen hat. Es verletzt sie, dass ich noch immer nach Gründen suche, noch immer Antworten fordere. Und es zerstört sie, mir diese nicht geben zu können.
Andererseits macht es mich so verdammt wütend, dass sie ihre altes Ich, all ihre Erinnerungen so leichtfertig aufgegeben hat. Ich verstehe nicht, warum sie nicht wenigstens versucht, zu ergründen, wer sie einmal war und was sie erlebt hat. Es macht mich wütend, dass sie vor allem davonrennt, was ihr gefährlich werden könnte, dass sie sich der Angst vor einem erneuten Schmerz so bedingungslos hingibt.
Ich weiß nicht, warum ich diese unbändige Wut in mir spüre. Vielleicht liegt es daran, dass ich nie die Möglichkeit hatte, vor meinem Schmerz davonzulaufen? Daran, dass ich all die Jahre mit der Trauer um den Verlust unserer Liebe leben und mich jeden Tag mit den Narben auf meinem Herzen auseinandersetzen musste?
Und während ich immer um unsere Liebe gekämpft habe und zehn Jahre lang um unsere gemeinsame Zeit getrauert habe, gibt sie all diese Erinnerungen einfach so auf, gibt sich auf, nur um die Dunkelheit nicht sehen zu müssen, die ihr Leben bestimmt hat.
Ich weiß, dass ich mich irgendwie ablenken muss. Wir beide brauchen Zeit, um das Gesagte verarbeiten zu können, müssen Abstand zwischen uns und dieses Gespräch bringen. Aber ich weiß, dass ich verrückt werde, wenn ich in diesem Haus bleibe und mich wehrlos den Gedanken hingebe, die durch mein Bewusstsein strömen.
Also schnappe ich mir mein Fahrrad und fahre in die Praxis. Auch wenn ich meine freien Tage nur ungern auf der Arbeit verbringe, erst recht nicht, um Papierkram zu erledigen, so scheint es mir jetzt doch die einzige Möglichkeit zu sein, um die lästigen Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Doch auch hier werde ich unweigerlich von den Erinnerungen an Hannah heimgesucht.
Ich sehe die Patientenliege, auf der Hannah noch vor wenigen Tagen saß und von mir verarztet wurde. Ich spüre noch immer ihre Präsenz, als wäre sie erst vor wenigen Sekunden in diesem Raum gewesen. Ihren himmlischen Duft, der meine Sinne betäubt. Das Gefühl ihrer warmen Hand in meiner, wie geschaffen füreinander. Den innigen Blick aus ihren sehnsuchtsvollen Augen, der sich tief unter meine Haut brannte. Und die Worte, die ich ihr hier versprach.
Egal, was morgen sein wird oder auch nicht...Das Hier und Jetzt mit dir zählt, denke ich. Und im Hier und Jetzt bin ich glücklich, dass du bei mir bist. Das allein ist wichtig. Das allein ist bedeutungsvoll.
War ich naiv, weil ich so sehr an das glauben wollte, was ich zu ihr sagte? Oder habe ich mir von Anfang an etwas vorgemacht? War ich vielleicht nie imstande dazu, tatsächlich nur im Hier und Jetzt zu lieben, ohne Fragen nach dem Gestern oder Morgen?
Als ich merke, dass ich die Gedanken an Hannah auch hier nicht zum Verstummen bringen kann, verlassen ich die Praxis wieder. Ich fahre noch eine kleine Runde durch das Dorf, versuche irgendwie einen klaren Kopf zu bekommen. Doch jeder Ort, den ich erblicke, ruft sofort Erinnerungen an Hannah wach.
Da ist Francescos Eisdiele. Hier aßen gemeinsam Eis und ich sehnte mich nach dem Geschmack der süßen Mango auf ihren schönen Lippen.
Das Fischrestaurant am Haven, in dem begriff ich, dass ich ihr noch immer hoffnungslos verfallen war.
Der Festplatz, auf dem das diesjährige Sommerfest stattfand. Danach lagen wir uns in den Armen, während wir zur Stille der Nacht tanzten.
Nach diesem Tanz war alles anders.
Die Dämmerung bricht bereits ein, als ich mich wieder auf den Heimweg mache.
Ich kann meine Gedanken nicht davon abhalten, unentwegt um Hannah zu kreisen. Also kann ich das auch genauso gut Zuhause vor dem Kamin und eingewickelt in einer flauschigen Kuscheldecke tun.
Ich will gerade mein Fahrrad im Schuppen verstauen, als ich die Gestalt erblicke, die zusammengekauert auf der Veranda sitzt. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Svenja.
Zuerst ist da nur Überraschung in mir. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass wir uns nach unserer unschönen Trennung jemals wiedersehen würden.
Dann drängen sich die Bilder unserer Auseinandersetzung wieder in mein Bewusstsein.
Ich sehe Svenja wieder vor mir, wie sie mir ohne Reue im Gesicht von ihren regelmäßigen Treffen mit einer anderen Frau erzählt, spüre ihren hasserfüllten Blick auf mir, mit dem sie mich wissen ließ, dass ich allein die Schuld an diesem Seitensprung trage, kann noch die Entschlossenheit in ihrer Stimme hören, mit der sie mir ihre Liebe schwor.
Und plötzlich ist da so viel Trauer in mir. Trauer und Reue darüber, auf welche Art und Weise diese zarte Liebe zerbrochen ist. Ich weiß, dass ich meinen Teil dazu beigetragen habe. Denn ich war im Herzen nie wirklich frei für sie.
Ich schlucke die Erinnerungen hinunter, gehe die wenigen Schritte auf die Veranda zu.
„Hey", höre ich mich mit rauer Stimme sagen.
Svenja erwidert die Begrüßung, streicht sich dabei durch die schwarzen, zum Zopf gebundenen Haare. In ihrer schwarzen Bikerjacke und der grünen Khaki-Hose sieht sie cool und selbstbewusst aus. Aber ihre Körperhaltung zeigt mir, dass das nur Fassade ist.
„Warum bist du hier?", will ich wissen, als sich die Stille unangenehm zwischen uns auszubreiten beginnt.
„Ich wollte nur ein paar Sachen holen, die ich noch bei dir vergessen habe. Meine Laufschuhe, die Star-Wars-DVD-Sammlung und so."
Ich nicke. „Ich hatte deine Sachen bereits zusammengesucht und in einen Karton gepackt. Du hättest anrufen können. Dann hätte ich sie dir vorbeigeschickt."
Svenja sieht mich an, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst.
„Tut mir leid. Ich hatte nur einfach nicht damit gerechnet, dich nochmal wiederzusehen", gebe ich zu.
„Ich verstehe. Vielleicht kann ich trotzdem mit reinkommen? Dann können wir nochmal kurz reden?"
Mein Blick wandert wie automatisch zu dem roten Ferienhaus, das zwischen den dichten Bäumen hindurchschimmert. Svenja folgt meinem Blick, sagt aber nichts.
Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt, jetzt noch ein solches Gespräch führen zu müssen, lasse ich Svenja ins Haus. Ich weiß, dass es unfair wäre, sie jetzt einfach nach Hause zu schicken.
Sie folgt mir ins Wohnzimmer. Ich biete ihr etwas zu trinken an, während ich die Fenster zur Terrasse öffne.
Ich brauche Luft zum Atmen.
Dann stehen wir einander stumm und abwartend gegenüber.
„Ich hole mal deine Sachen", zwinge ich hervor, will schon zum Gehen ansetzen, als sie mein Handgelenk packt und mich daran hindert.
„Vielleicht musst du die Sachen gar nicht holen."
Ich sehe sie verwirrt an.
„Was meinst du?"
Ich spüre ihren Blick auf mir. Intensiver, als noch vor wenigen Sekunden. Da begreife ich.
„Nein Svenja. Das ist keine gute Idee."
„Maja. Bitte. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte nicht diese Affäre anfangen sollen. Und ich hätte dir nicht unterstellen dürfen, dass du die Schuld dafür trägst. Ich hätte um unsere Liebe kämpfen sollen."
Ihre Stimme ist schuldbewusst, klingt fast verzweifelt. Und alles in mir zieht sich schmerzhaft zusammen, als ich die Qual in ihren Augen sehe. Es tut ihr wirklich leid.
Ich nehme ihre Hände in meine. So, wie ich es noch vor wenigen Monaten täglich, voller Innigkeit und Hingabe getan habe. Jetzt fühlt sich ihre Haut fremd auf meiner an.
„Svenja, wir können nicht da weiter machen, wo wir aufgehört haben. Es ist zu viel zwischen uns kaputt gegangen. Und dafür trage auch ich meine Schuld."
Ich spreche es nicht aus, aber ich sehe, dass Svenja auch so versteht, was ich meine. Sie weiß von meinen Gefühlen für Hannah. Sie weiß, dass dieser Platz in meinem Herzen von ihr erfüllt ist. Vermutlich schon immer von ihr erfüllt war.
„Es tut mir leid", flüstere ich.
Eine Träne löst sich aus ihrem Augenwinkel.
„Mir auch."
Ich schlinge meine Arme um sie, kann die Traurigkeit in ihren Zügen kaum ertragen. Denn auch wenn meine Liebe nun Hannah gehört, so standen Svenja und ich einander trotzdem mal unheimlich nahe. Wir haben unsere Leben miteinander geteilt, viele wunderschöne Tage miteinander verbracht. Diese Zeit kann uns keiner mehr nehmen.
„Ich habe dich so vermisst, Maja. Die Trennung war ein Fehler. Der schlimmste meines Lebens."
Ihren Worten folgt ein herzzerreißendes Schluchzen, doch ich weiß nicht, was ich sagen kann, um ihr ihren Schmerz zu nehmen.
„Ich bin froh, dass du hier bist", entgegne ich schließlich, fahre mit meinen Händen tröstend über ihren Rücken.
Erst, als sie sich langsam zu beruhigen beginnt, löse ich mich wieder von ihr. „Aber wir können nicht zurückholen, was wir einst hatten. Und vielleicht ist das auch gut so. Denn sicher wartet da draußen eine Liebe auf dich, die noch schöner und erfüllender ist, als unsere es war."
Svenja wischt sich über die tränennasse Wange und nickt.
„Ja. Vielleicht hast du Recht."
Dann dreht sie sich abrupt um, steuert die offenstehende Wohnzimmertür an, als würde eine Flucht vor mir all die bleierne Schwere in ihr vertreiben und durch Leichtigkeit ersetzen. Und während sie im Türrahmen steht, ihre tiefbraunen Augen ein letztes Mal meine finden, sehe ich das kleine, leuchtende Schimmern von Hoffnung darin aufblitzen. Und da weiß ich, dass sie okay sein wird, dass wir okay sein werden. Vielleicht nicht heute oder morgen. Aber vielleicht im nächsten Sommer.

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