Kapitel 5

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Woher kennen wir uns, Maja?

Ich starre Hannah an, verzweifelt nach einer Antwort suchend, die all ihre Fragen beantworten könnte. Ich sehe, wie sie in ihren Augen brennen, die Fragen, wie sie sich wie eine Hand um ihr Herz legen und zudrücke. So fest zudrücken. Der Schmerz glitzert im diesem tiefblauen Meer, wie Kristalle, wie Tränen. Ich erahne, wie groß die Angst vor meiner Antwort ist, so, als sei sie sich längst bewusst, dass diese Wahrheit, die ich einst Liebe nannte, sie innerlich in Stücke reißen könnte. Und in diesem Moment spüre ich diese Angst auch, weil Hannah vor mir plötzlich so zerbrechlich und zart erscheint, dass ich glaube, sie könnte dieser Wahrheit nicht standhalten, nicht mit ihr umgehen. Plötzlich ist sie nicht mehr diese selbstbewusste, starke Frau, die ich an diesem ersten Tag unserer Begegnung kennenlernte. Plötzlich ist sie jemand anderes, und mir wird bewusst, dass sie diese andere Frau schon ist, seit sie gestern vor meiner Tür stand und damit mein Leben ins Wanken brachte.

Und daneben, neben diesem Schmerz, der sie einnimmt und sich an ihr klammert, sehe ich auch so etwas wie Wut. Und Verzweiflung. Ich will in ihrem Blick lesen, wissen, worauf sie so wütend ist. Auf mich? Auf sich selbst? Doch ihre Augen scheinen für mich in diesem Moment undurchdringbar, so, als hätte sie sie für mich verschlossen.

Ich gehe einen Schritt auf sie zu, will die Hand ausstrecken, ohne zu wissen, warum. Hannah weicht erschrocken zurück.

„Sag es endlich! Woher kennen wir uns?"

Ihre Stimme ist kratzig und aufgewühlt. Sie atmet schnell und schwer, ihr Brustkorb hebt sich in einem unregelmäßigen Rhythmus. In diesem Moment wünschte ich, ich könnte sie in meine Arme zerren, ihren Kopf an mein Herz pressen, mein Hand in ihrem Haar vergraben, ihr über den Rücken streichen, gleichmäßig und dabei beruhigend auf sie einreden. Ich will ihr sagen, dass alles gut wird. Dass sie keine Angst haben muss. Nicht vor mir. Doch bevor ich diesen Wunsch in die Tat umsetzen kann, begreife ich, dass das das letzte wäre, was sie sich jetzt wünscht, was sie zulassen würde. Denn in ihren Augen bin ich eine Fremde, in ihren Augen sind wir einander fremd. Ich weiß es, seit sie gestern das erste Mal meinen Namen ausgesprochen hat und seit dem suche ich eine Antwort für ihr Verhalten. Und jetzt, wo sie ihr so vor mir steht, aufgewühlt und eingeschüchtert, begreife ich, dass etwas Hannahs Gedächtnis gelöscht hat. Dieses Etwas hat unsere gemeinsamen Erinnerungen auf ein Haufen geworfen, ein Feuerzeug gezückt und diese Momente, die uns einst miteinander verbunden haben, in Flammen aufgehen lassen. Und während das Feuer wild loderte, konnte Hannah nichts anderes tun, als zuzusehen. Sie hat mich nie vergessen, sie kann sich nur nicht erinnern.

Ich weiß nicht, woher diese Erkenntnis so plötzlich kommt und doch weiß ich, dass sie wahr ist. Denn was sollte sonst der Grund dafür sein, dass sie sich so verändert hat? Dass sie sich nicht an mich, nicht mal an ihren eigenen Nachnamen erinnern kann? Sie kann sich vermutlich nicht mal mehr an sich selbst erinnern.

Ich senke den Kopf, spüre mein Herz wild pochen, so, als wolle es in Hannahs Arme und heraus aus meiner Brust springen. Ich versuche tief durchzuatmen, einen klaren Kopf zu bekommen, irgendwie. Was soll ich ihr nur sagen? Wie soll ich auf all ihre Fragen antworten, ohne sie dabei zu verletzten? Denn ich weiß, dass ich das würde. Wenn Hannah tatsächlich an Gedächtnisverlust leidet, was ich bisher nur vermuten kann, dann wüsste sie genau, dass ich sie belogen haben. Denn das habe ich. Ich habe ihr vorgespielt, sie nicht zu kennen, obwohl ich sie einst vermutlich besser gekannt habe, als mich selbst. Vielleicht würde Hannah dann gehen. Vielleicht würde ich sie dann für immer verlieren. Und vielleicht wäre das auch richtig, vernünftig. Vielleicht.

Ich frage mich, ob ich Hannah von uns erzählen soll. Und wenn ja, wie viel wäre gut für sie?

Hannah, du und ich sind Seelenverwandte. Zumindest dachten wir das einst. Als ich dich zum ersten Mal sah, hast du mir so tief in die Augen geschaut und dabei mein Herz in deine schönen Hände genommen, es zart gestreichelt und dann fest an deines gepresst. Seit dem Tag bist du bei mir, tief in mir, als wärst du ein Teil von mir. Seit dem Tag konnten wir einander nicht mehr loslassen. Wir trafen uns immer in diesem alten, rustikalen Buchcafé, am Hafen in Hamburg. Dort hast du mir deine Wünsche, Träume und deine Seele anvertraut, hast mir von deinem Leben erzählt und ich dir vor meinem. Wir haben stundenlang geredet und uns dabei so zeitlos gefühlt, wie wir es immer taten, wenn wir zusammen waren. Und dann, irgendwann, hast du meine Hand in deine genommen und ab da begann unsere Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte, so zart, leidenschaftlich und glühend, dass sie ein Happy End verdient hätte. Aber wir sind zerbrochen. Ich an dir und du an dir selbst. Wir konnten nicht aufhören, einander zu lieben. Aber gleichzeitig konntest du auch nie aufhören, an einem Leben und an einer Beziehung festzuhalten, die längst in Trümmern lagen.

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