Straßenjunge

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In den nächsten Tagen war es relativ still im Haus, sein Vater war oft mit den anderen Säufern unterwegs und wenn er da war, sollte Lennox meist irgendwelche Hausarbeit machen. Manchmal wurde er geschlagen, aber nie wirklich schlimm. Eigentlich war alles wie vor ein paar Wochen. Am Samstagmorgen schlief Lennox noch, als sein Vater das Haus verließ. Er schloss selbstverständlich die Tür ab, damit niemand in die Wohnung konnte, aber Lennox hatte ja sein Fenster.

Als er eine Stunde später aufwachte, streckte er sich erstmal ausgiebig. Nachdem er merkte, dass sein Vater nicht da war, ging er in dessen Zimmer und beseitigte das Chaos aus leeren Flaschen und Zigaretten. Danach kam er seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Er griff sich seine schwarze Gitarre und fing an zu spielen. Dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich, wenn sich die Musik mit seiner Seele verband und er sich vollkommen in ihrem Klang verlor. So ging es, bis sein Vater am Mittag zurückkam. Lennox legte die Gitarre zur Seite und ging zu ihm.

„Warst du wieder mit den Idioten unterwegs?"

Die Beleidigung war ihm versehentlich raus gerutscht und er bereute sie sofort, als sein Vater ihn schlug.

„Das sind meine Freunde, mehr als du hast! Sprich nicht so über sie und verhalte dich nicht so respektlos!", donnerte er.

„Tut mir leid.", sagte Lennox trocken.

Sein Vater packte ihn und kam seinem Gesicht bedrohlich nah, doch Lennox wich nicht zurück. Doch er senkte den Blick, als sein Vater ihm noch eine Ohrfeige verpasste. Den nächsten Schlag wehrte er problemlos ab. Sein Vater knurrte:

„Dass du auch immer alles kaputt machst! Aber ich lasse nicht mehr zu, dass du schlecht über die Gang sprichst, wo du uns doch nur mit deiner rebellischen Art nervst und provozierst! Und sich dann auch noch wundern, wenn wir dir Manieren beibringen wollen!"

Lennox spürte den brennenden Zorn und die Verzweiflung. Jene Gefühle, die immer da gewesen waren, er jedoch krampfhaft zu unterdrücken versucht hatte. Denn sie trieben ihn an, die Beherrschung zu verlieren. Er wollte seine Wut und seinen Schmerz nie äußern, aus Angst, es seinem Vater noch leichter zu machen, ihn zu verletzen.
Doch beim nächsten Schlag schien er aus einem Traum zu erwachen. Er dachte an alles, was sein Vater ihm angetan hatte, an die ganze Schuld, die er ihm in die Schuhe geschoben hatte, all die Male, wo Lennox nicht den Mut hatte, sich zu wehren und ihn zurechtzuweisen. Sein ganzer Frust und Schmerz tobte in seinem Inneren und ließ sich diesmal nicht unterdrücken.

„Nein.", flüsterte er.

Sein Vater war für einen Moment sichtlich verwirrt.

„Was, nein?"

Lennox blickte auf und seinem Vater tief in die kalten Augen. Dann ließ er los:

„Nein, mir tut es nicht leid! Deine Freunde sich Idioten, genau wie du, dir ist alles egal, ich bin dir egal! Du kümmerst dich um nichts mehr und bist zu einem erbärmlichen Wrack geworden. Ich habe dich all die Jahre gebraucht, aber du hast mich nur geschlagen und in diesem eckligen Loch eingesperrt! Du hast gesagt, dass du Mama so sehr vermissen würdest, aber wenn sie dich so sehen würde, hätte sie wirklich keinen Grund zurück zu kommen! Sie bleibt wahrscheinlich weg, weil sie nichts mehr mit dir zu tun haben will, so wie du jetzt bist und ich bin das Ventil, an dem du deinen ganzen Frust auslässt, weil du weißt, sie würde dich hassen, wenn sie dich so sehen würde!"

Lennox hatte geschrien und wusste, dass er viel zu viel gesagt hatte. Aber er konnte nicht anderes, hatte das Schweigen nicht länger ertragen. Zu lange hatten die Worte gewartet, endlich gesagt zu werden. Tränen strömten über seine Wangen und sein Vater starrte ihn kurz an, bevor die Wut vollständig von ihm Besitz ergriff.

„Verschwinde von hier!", brüllte er und rammte Lennox sein Knie in den Bauch und die Faust ins Gesicht.

Dann packte ihn sein Vater und zerrte ihn zur Tür. Er warf Lennox auf den Boden und schmiss seine Gitarre, die noch im Wohnzimmer rum stand hinterher.

„Du hast nicht das Recht, über Xenia zu sprechen! Und jetzt geh mir aus den Augen!"

Dann knallte er Lennox die Tür vor der Nase zu. Zu sich selbst flüsterte er:

„Doch, sie ist meine Mutter. Und ich habe Recht mit allem, was ich zu dir gesagt habe."

Er wusste, dass ihn niemand hörte. Und er wusste auch, dass es kein Zurück mehr gab. Er hatte ab sofort kein Zuhause mehr. Aber er war auch nicht mehr eingesperrt! Doch so konnte er nicht gehen, nur mit seiner Gitarre. Er brauchte wenigstens die notwendigsten Sachen, wie Proviant und Geld. Er wartete bis zur Dämmerung und versteckte sich, als sein Vater sturzbetrunken und taumelnd aus der Tür trat und die Straße zur Bar entlang lief, wahrscheinlich um seine Säufergang zu treffen. Als er außer Sichtweite war, kletterte Lennox durch das Fenster - glücklicherweise hatte er es auf gelassen - in sein Zimmer und packte einen Rucksack mit allem was er brauchen könnte. Dann nahm er alles Geld mit, was er finden konnte, wofür er ins Schlafzimmer seines Vaters ging. Als er alles hatte, kletterte er wieder nach draußen und ging los. Nach ein paar Metern drehte er sich nochmal um. Das war sein Zuhause gewesen. Doch war es das seit dem Verschwinden seiner Mutter überhaupt noch gewesen? Wieso sonst tat es so weh? Noch eine einzelne Träne lief über seine Wange. Dann drehte Lennox sich um und machte sich auf den Weg, weg von seinem alten Leben. Er wusste nicht, wo er hin sollte, wie er sich versorgen konnte. Seine Gaben würden ihm mit Sicherheit dabei helfen, doch er musste vorsichtig sein. Aber erstmal musste er hier weg! Er lief die Straßen entlang, darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Und es funktionierte! Niemand sah ihn und nie war er dankbarer über diese Gabe. Er wollte niemandem begegnen, der ihn möglicherweise aufhalten wollte, wie die Säufer. Kein Bewohner von Lübeck sollte wissen, wohin er ging, keine Spur sollte seinen Vater zu ihm führen. Er würde eh nicht nach ihm suchen und Lennox bezweifelte, dass jemand anderes es tat oder gar die Polizei einschaltete. Doch für den Fall wollte er sicher sein. Er lief immer weiter, bis er zum Bahnhof kam. Viel Geld hatte er nicht, also beschloss er, kein Ticket zu kaufen und es für etwas Anderes, Wichtigeres zu sparen. Lennox setzte sich in den nächsten Zug, darauf bedacht, keinen der anderen Passagiere zu berühren, da sie ihn sonst sehen würden. Irgendwann fiel er in den Schlaf, ein einziger Gedanke im Kopf:

Jetzt gab es kein Zurück mehr, er war nun heimatlos.

Die Erkenntnis überfiel ihn:

Er war nun ein Straßenjunge.

Reise durch die SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt